Überman
Tasche und spüre augenblicklich Phils Krückenspitze in meiner Seite. »Du glaubst nicht allen Ernstes, dass du hier Empfang hast, oder?«
»Weiß ich selber, ich wollte was ausrechnen.«
Ein kleiner, schnauzbärtiger Mann im Jägerlook macht »Pssst!«, und wir schauen zu unserem Gelbjacken-Guide, der sich vor einer der Karten aufgebaut hat und erklärt, dass der Bunker ursprünglich für zweihundert Beamte gebaut wurde, die maximal dreißig Tage lang hier arbeiten konnten. Na also. Das ist doch schon mal eine Info.
»Warum nur dreißig Tage?«, will jemand wissen.
»Weil man damals davon ausging, dass nach dieser Zeit nur noch so wenig Radioaktivität vorhanden wäre, dass man wieder nach draußen konnte. Heute wissen wir natürlich, dass das Unsinn ist.« Während Versch erzählt, rechne ich schon mal, denn die Info mit der Belegung ist neu. Wenn also, sagen wir, 200 Bunker-Flüchtlinge je 1 000 Euro dafür abdrücken, dass sie den Weltuntergang hier überleben dürfen, dann wären das mal eben 200 000 Euro, geteilt durch zwei, und dann würden ja auch noch Kosten für Lebensmittel, Personal und Werbung abgehen. Emsig bohrt sich mein Zeigefinger ins Glas meines Smartphones. Es kommen nur 75 000 Euro raus – ich bin enttäuscht. Was, wenn ich den Preis auf 2 000 Euro erhöhe? Das wären dann 150 000 Euro Umsatz. Was ist mit Steuer? Muss man überhaupt Steuer zahlen für Geld, mit dem man Steuern bezahlt? Ein knarzendes Geräusch reißt mich aus meinen Berechnungen.
»Verehrte Kollegen!«, höre ich Phil, der sich vor ein altes Durchsagegerät gesetzt hat, durch die Lautsprecher, »soeben haben sich hundert weitere Ottos im Bunker eingefunden. Bitte empfangen Sie sie recht herzlich. Ende der Durchsage!«
»Beamte!«, verbessert Versch schmunzelnd und erklärt, dass man das nun im kompletten Bunker gehört habe und der Bunker im Ausnahmefall bis zu dreihundert Personen aufnehmen könne, obwohl es nur hundert Betten gebe.
Sofort rattert es wieder in meinem Kopf. 300 mal 2000 Euro, ach was … 300 mal 2500 Euro, das sind: 750 000 Euro! Und warum sollte Versch die Hälfte verdienen, wenn ich die ganze Arbeit habe? Ich werde ihm zwanzig Prozent bieten. Bleiben 600 000 für mich, das ist mehr als eine halbe Million! Ich bin begeistert.
»Aber wie geht das denn, wenn es nur Betten für hundert Mann gibt?«, fragt eine blässliche junge Frau in einem Bundeswehranorak.
»Ganz einfach«, erklärt Versch, »wenn Sie nur acht Stunden schlafen, ist das Bett ja zwei mal acht Stunden frei, oder?«
»Ah«, sagt die blasse Frau, und auch ich verstehe. Geschickt! Wir gehen ein Referat weiter, denn, so erinnert Versch, wir sind ja jetzt Beamte und müssen die Flüchtlingsströme nach einem Atomschlag koordinieren.
600 000 Euro! Am liebsten würde ich sofort loslegen und alles besprechen mit Versch. Phil zupft an meiner Jacke. »Atomschlag, Simon! Mitmachen!«
»Klar! Gerne. Wo?«
Der Atomschlag ist in unserem Planspiel eine taktische Atombombe auf Essen bei Windrichtung Süd. Als Versch erklärt, dass Düsseldorf nicht mehr zu evakuieren sei wegen der ungünstigen Abtriebsrichtung des Fallouts bekommt Phil einen Lachanfall und ruft mehrfach: »Diese Ottos!« Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, werden wir angehalten zu überlegen, wie wir die Leute aus Köln rauskriegen, wo wir eine Stunde mehr Zeit haben. Schnell wird klar, dass wir alle eine etwas naive Vorstellung davon haben, wie eine Großstadt innerhalb von zwei Stunden zu evakuieren sei. Die Antwort lautet: gar nicht. Mit viel Glück und einem reibungslosen Ablauf schaffen es vielleicht 200 000 aus der Stadt. Die restlichen 800 000 werden ihrem Schicksal überlassen. »Et hät noch immer joot jejange!«, scherzt jemand, einige lachen, Versch nicht. »Die Menschen verändern sich, wenn’s um Leben und Tod geht. Rechnen Sie mit dem Schlimmsten: Anarchie und Chaos!«
»Ich dachte immer, die Menschen helfen sich«, sagt eine Besucherin enttäuscht.
»Ja«, bestätigt Versch bitter, »im Film.«
Nachdem wir also Düsseldorf aufgegeben haben und zumindest die linke Rheinseite von Köln gerettet, besichtigen wir schweigend die riesigen Netzersatz-Diesel-Generatoren und erschaudern wenig später, als Versch im Not-Sendestudio des WDR Edith Piafs »Je ne regrette rien« von einem alten BASF -Tonband abspielt. Phil ist aufs Klo verschwunden, ich nutze die Gelegenheit, Versch zu fragen, ob er im Anschluss an die Tour
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