Überman
legt es auf einen Tisch. »Also bisher dachte ich das schon!«
Ich räuspere mich. »Ich weiß, das ist jetzt wirklich unpassend, aber ich würde wahnsinnig gerne noch mal meine Freundin anrufen, immerhin war der Abend ja für sie …«
»Na ja, klar. Machen Sie. Wir haben ja noch drei Weine.«
»Ach … sind die Türen oben offen?«
»Entschuldigung. Die Kollegen sind ja weg inzwischen. Bin gerade ’n bisschen durch den Wind«, stammelt der Zwerg und reicht mir den kompletten Weinkellerschlüsselbund. Verstört blicke ich auf ein gutes Dutzend Schlüssel an einem Edelstahlring.
»Der mit der roten Wolle?«
»Nein, der ist für hier. Der mit dem weißen Plastik.«
»Danke!«, sage ich, gehe nach draußen und schließe die Tür ab.
»Hey!«, schallt es dumpf durch die solide Stahltür, »was soll das denn? Hallo?« Dass sich der Zwerg nicht geräuschlos seinem Schicksal fügen würde, hatte ich vermutet, dass man das Geschreie und Getrete nun allerdings so laut hört, überrascht mich doch. Ich fackle nicht lange und schiebe vier mannshohe Paletten toskanischen Rotwein als Schallschutz vor die Tür, was mich eine weitere wertvolle Minute kostet. Es muss schnell gehen jetzt; vier, fünf, höchstens sechs Minuten noch, dann werden sie nachschauen, wo wir bleiben.
An der Servicetheke vorbei renne ich zum fahrbereiten Lastenaufzug. Obwohl es nur zwei Stockwerke sind, dauert die Fahrt ewig. Immer noch hab ich Mickie Krause im Kopf. Was macht man gegen einen Ohrwurm zur völlig unpassenden Zeit? Gegenfeuer mit Rammstein? Oder eine gelbe Pille?
Endlich angekommen, drücke ich die schwere weiße Aufzugtür auf, springe über den Kassentresen und stürze ins Büro des Geschäftsführers. Ich kippe den Becher mit den Stiften um, und mein Diktiergerät fällt raus. Siebenundzwanzig sprachgesteuerte Aufnahmen wurden erstellt, die ich natürlich unmöglich alle durchhören kann. Mit zitternden Fingern klicke ich mich zu den letzten Takes um kurz vor zwanzig Uhr, und die Stimme des Chefs knarzt aus dem winzigen Lautsprecher.
»… im Ernst, lass stecken die Karten, ich war so enttäuscht im letzten Jahr, die sollen erst mal wieder aufsteigen.«
Okay, das ist es schon mal nicht. Ich klicke mich vor.
»… das noch fertigmachen, dann kann’s morgen in die Post. Ich danke Ihnen. Was? Nee, ruf ich an!«
Bitte, bitte, bitte …
Ich drücke auf den vorletzten Take.
»Sebastian, alles jut?«
Warum antwortet denn keiner? Weil es ein Telefongespräch ist!
»Ja, nee … jeden Abend jetzt vor Weihnachten, bewachen halt die Kunden den Laden, auch nicht schlecht«, scheppert das Diktiergerät.
Sag’s einfach!
»Ja, nee, is klar: Mesut Özil!«
Gott sei Dank!
Zitternd wähle ich die Nummer des Wachdienstes. Es tutet einmal, zweimal, dreimal …
»Adler Objektschutz, Günther?«
»Sebastian, alles jut?«, wiederhole ich.
»Alles jut!«
»Ich wollte dir nur sagen, die Veranstaltung hier geht was länger, von daher spart euch die Runde. Du weißt ja … jeden Abend!«
»Alles klar. Trotzdem, pro forma, du weißt schon …«
»Es gibt nur einen … Mesut Özil!«
»Haha, stimmt! Alles klar, viel Spaß dann noch!«
»Danke!«, sage ich, lege auf und sprinte aus dem Büro. Ich durchquere den hellgrünen Kassen- und Delikatessverkaufsraum, trete hinaus in die Nacht und genieße für einige wenige Sekunden die frische Winterluft. Weiter, Überman, weiter!
Die Rampe runter renne ich an Phils zerbeultem BMW vorbei zum Gebüsch neben dem Parkplatz, wo mein weißes Magnetrind mit den lustigen Hörnern seelenruhig vor sich hinsteht und mich anstarrt. Hastig binde ich sie los. »Es geht weiter, Trulli!«
Meine Eile kann ich Trulli dann aber doch nicht wirklich vermitteln. Wie in Zeitlupe schleppt sie sich die Rampe hoch – hätte ich mal lieber die nicht so fette, dunkle Kuh genommen. Und nicht nur das ist das Problem – Trulli hat sich überhaupt nicht im Griff: Als ich das Gitter vom Luftschacht abnehme und das Seil für den Korb in die Umlenkrolle lege, lässt sie in aller Seelenruhe mehrere apfelgroße Batzen Scheiße fallen. Noch so eine Sache, an die ich nicht wirklich gedacht habe.
»Och Trulli …!«, stöhne ich, »im Keller aber nicht, ja?!«
Ich öffne die Dose mit Evils Würstchen und lege sie in eine Plastikschale neben den Luftschacht, dann versuche ich ein letztes Mal, Annabelle zu erreichen. Wieder nur die Mailbox.
Ich spreche ihr drauf, dass sie den Rindern nicht mehr folgen soll, weil ich
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