Uebermorgen Sonnenschein - Als mein Baby vertauscht wurde
krieg das nicht mehr hin. Mir fehlt mittlerweile die Kraft.«
»Schluss jetzt, Ann-Kathrin! Wir verstehen das alle. Du bist krank – und das ist schlimm. Aber wir machen alles für dich. Und jetzt ist gut!«, schallte Martins Stimme durch das Zimmer.
Ich bewunderte meine Schwester, wie sie das alles aushielt. Ehrlich gesagt hatte ich ihr diese Stärke nicht zugetraut, denn sie war schon als Kind immer viel sensibler als ich und weinte wegen jeder Kleinigkeit. Ich fragte mich, ob ich an ihrer Stelle nicht längst zusammengebrochen wäre. Auf jeden Fall war es gut, dass Ann-Kathrin auch mal ein richtiger Kotzbrocken sein konnte – diese Kraft brauchte sie, um lebend wieder da rauszukommen.
KAPITEL 42
D ie Kinder sind weg!«, schrie ich durchs ganze Haus. Jemand war in unser Haus eingebrochen und hatte unsere Kinder entführt. »Die Kinder sind weg! Raaaalf, unsere Kinder!«, schrie ich wieder und wieder.
»Jeannine, aufwachen. Wach auf, Schatz. Du hast nur schlecht geträumt.« Ralf rüttelte an meinen Schultern.
Schweißgebadet setzte ich mich auf. Es war nicht das erste Mal, dass ich diesen Alptraum hatte.
Am Anfang hatte ich mit Frau Leifert noch über die Vertauschung der Babys gesprochen, doch inzwischen ging es immer mehr um meine Ängste. Meine aktuellen Verlustängste konzentrierten sich nicht nur auf meine Nichte, ich hatte auch eine panische Angst, dass meinen eigenen Kindern etwas passieren könnte.
Trotzdem war ich der Meinung, dass es zu siebzig Prozent die Krankheit von Ann-Kathrin und nur zu dreißig Prozent die Vertauschung war, die mich in solche Ängste trieb. Eine Vertauschung wird mir nie wieder passieren. Aber auf Krankheiten, Unfälle, Entführungen oder so etwas Schlimmes hat man ja so gut wie keinen Einfluss.
Bald legte sich jedoch die Angst wie ein dichter schwerer Teppich über mein ganzes Leben, ich bekam sogar psychosomatische Störungen. Zunächst äußerte sich das in Taubheitsgefühlen am ganzen Körper. Ich bildete mir sofort ein, dass ich Multiple Sklerose hätte und rannte von einem Arzt zum anderen. Wenn ich Schmerzen im Rücken verspürte, glaubte ich, einen Tumor zu haben. Wenn mein Bein wehtat, dachte ich gleich an eine Thrombose. Meine Fantasie brannte immer mit mir durch – schließlich konnte ich durch meinen medizinischen Beruf ja aus einem ziemlich großen Fundus an Krankheiten schöpfen. Je ausgelaugter ich war, umso fürchterlicher waren meine Horrorvisionen. Frau Leifert, die ja nicht nur Psychologin, sondern auch Schulmedizinerin ist, wirkte in zweierlei Hinsicht heilsam auf mich ein. Sie erklärte mir die Zusammenhänge von Stress und körperlichen Beschwerden und gab mir viele Tipps, wie zum Beispiel Entspannungsübungen, Ernährungsumstellung, pflanzliche Mittel. Sie half mir, meinen Körper besser zu verstehen, auf seine Warnsignale zu hören und dementsprechend zu handeln.
Wenn ich heulend zur Therapie kam, machte sie Entspannungsübungen oder Rollenspiele mit mir. »Stellen Sie sich vor, die Angst wäre eine Person und sitzt nun vor Ihnen. Wie sieht sie aus?«
Ich stellte mir eine kleine, hässliche Puppe, so wie in Chucky – Die Mörderpuppe, vor. Sie quälte mich ganz fürchterlich, piekste und zwickte mich andauernd und überall und hatte dabei dieses fiese Grinsen im Gesicht. Irgendwann konnte ich mich so gut in die Rollen hineinversetzen, dass ich zu meiner imaginären Puppe sagte: »Hau ab, du scheiß Puppe! Geh dahin, wo der Pfeffer wächst. Lass mich einfach nur in Ruhe!«
Aber Frau Leifert half mir auch, indem sie mein Selbstbewusstsein stärkte, mir immer gut zuredete und mich viel lobte. »Im Grunde genommen haben Sie ein sehr starkes Naturell. Es ist Ihr ewig schlechtes Gewissen, diese hausgemachte Sache von Ihrer Mutter, die Sie so beeinträchtigt und in ständige Gewissenskonflikte bringt.«
So war dann irgendwann die Beziehung zu meiner Mutter das Thema Nummer eins. Nach und nach wurden mir meine Verhaltensmuster klar: Ich hatte eigentlich ständig ein schlechtes Gewissen. Das war auch der Grund, warum ich mich damals im Krankenhaus nicht durchsetzen konnte und nicht auf einen Gentest bestanden hatte. In unserer Familie galt stets das Gebot, nicht schwach sein zu dürfen, bloß niemals zu jammern und anderen Leuten nicht zur Last zu fallen. Dafür aber ackern, ackern, ackern und sich für alle verbiegen. In meinem bis dahin dreizehnjährigen Berufsleben hatte ich gerade ein einziges Mal einen Krankenschein gebraucht. Ich hatte eine
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