Uebermorgen Sonnenschein - Als mein Baby vertauscht wurde
nicht gerechnet. Sonst bin ich ja nicht auf den Mund gefallen, doch nun schaue ich unsicher zu Lina hinüber, wie sie wohl reagiert. Eigentlich hatte ich es mir immer genau so gewünscht. Ganz nebenbei im Alltag. Hauptsache kein großes Ding daraus machen, bloß nicht vor ihrem ersten Schultag sagen müssen: »Lina, komm, setz dich mal hin. Papa und Mama müssen dir noch was erzählen …« – schließlich wohnen wir in einem Dorf, wo jeder jeden kennt. Und auf keinen Fall sollte Lina ihre eigene Geschichte über Dritte erfahren. Doch heute ist der denkbar ungünstigste Tag, ich habe alles minutiös durchgeplant: Nach meiner Frühschicht in der Klinik Yara aus der Schule und Lina aus dem Kindergarten abholen, Mittagessen kochen, danach einen großen Tacco-Salat für Paulas Geburtstagsfeier machen, die Kinder pünktlich zum Sport und zum Musikunterricht bringen und wieder abholen, Abendbrot essen, die Kinder ins Bett bringen und um halb neun gestylt auf der Party sitzen. Da ist keine Minute Luft mehr dazwischen. Und abgesehen von diesem ganzen Stress bin ich auf diese Frage gerade null vorbereitet. Ich schalte erst mal den Herd runter, drehe mich wieder zu den Kindern und antworte mit gespielter Lockerheit: »Also, das war so: Als du geboren wurdest, Lina, da wurde auch noch ein anderes Kind im Krankenhaus geboren. Und alle Babys kriegen ein Namensbändchen, nachdem sie auf die Welt gekommen sind. Als die Krankenschwester dich und das andere Baby nachts gebadet hat, sind diese Bändchen aus Versehen abgefallen, und die Krankenschwester hat dich mit dem anderen Baby verwechselt. Und dann habe ich das falsche Baby mit nach Hause genommen. Also nicht dich, wie es eigentlich hätte sein müssen, sondern das andere Baby. Aber irgendwann hat man herausgefunden, dass ihr vertauscht wurdet, und dann haben wir dich wieder zurückgekriegt.« Schon beim Reden merke ich, dass das, was ich da erkläre, kein fünfjähriges Kind auf dieser Welt verstehen kann. Aber ich kann es gerade nicht besser. Lina starrt mich an, als sei ich zu einem Schaf mutiert. Ihr Gesichtsausdruck ist ein einziges großes Fragezeichen. Wir werden sicher noch oft darüber sprechen und irgendwann wirst du es verstehen , denke ich hilflos. Doch Yara, die das Thema auf den Tisch gebracht hat, rettet mich. Sie versucht so zu tun, als sei das alles nur eine Lappalie gewesen. »Aber jetzt haben wir dich ja wieder, Lina! Wir sind so froh, dass du nun bei uns bist. Es war ja auch nur ganz kurz, dass du die Falsche warst. Das war doch gar nicht schlimm.« Lina schaut wieder abwechselnd zu ihrer großen Schwester und zu mir und kapiert gar nichts. Ich nicke und lächle. »Ja, genau. Gott sei Dank haben wir dich wiedergefunden«, höre ich mich in einer viel zu hohen Tonlage sagen – mehr fällt mir nicht ein. Aber genauso ist es: Wir sind einfach nur dankbar und froh, dass wir dich wiederhaben, Lina. Das sind die einzigen Gefühle, die von der ganzen Geschichte übrig geblieben sind – Dankbarkeit und Glück!
NACHWORT
R alf und ich entschlossen uns, keine Klage gegen die Klinik einzureichen. Stattdessen einigten wir uns gütlich. Unser Anwalt sagte immer nur: »Wirklich schade, dass Sie nicht in Amerika wohnen! Dann könnten Sie sich nun die ganze Klinik kaufen.«
Egal, wie hoch die Summe gewesen wäre, sie hätte das, was passiert ist, ohnehin nicht gutmachen können. Etwas erschüttert hat mich, dass es doch tatsächlich Neider gab: »Na ja, sie haben ja auch Geld dafür bekommen …«
Wie kann man nur so denken, frage ich mich.
Es konnte letztendlich nie geklärt werden, wie die Vertauschung eigentlich passiert ist. Natürlich ist das ein unbefriedigendes Ergebnis für uns. Die beiden zuständigen Schwestern konnten sich nicht mehr an ihre Nachtschicht erinnern – was ich allerdings gut verstehen kann, denn ich wüsste auch nicht mehr, wie meine Nachtschicht vor einem halben Jahr gewesen war.
Das saarländische Gesundheitsministerium hat zwar Untersuchungen angestellt, jedoch haben wir das Gutachten bis heute nicht zu sehen bekommen. Wir wurden noch nicht einmal als Zeugen befragt, was wir ziemlich verwunderlich fanden. Alle Informationen, die uns zuteilwurden, erfuhren wir wie Außenstehende nur über die Presse.
Mir kamen immer mal wieder irgendwelche abstrusen Verschwörungstheorien zu Ohren, wie zum Beispiel, dass die Babys absichtlich vertauscht wurden. Entweder von dem Vater von Lilli oder von einer zuständigen Krankenschwester, die
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