Überraschung kommt selten allein
überein«, folgerte er, »dass niemand je über die verborgenen Tugenden der Menschen spricht. Mein Großvater zum Beispiel war ein perfekter Lehrmeister im Kartenspiel. Und deswegen bin ich ein ausgesprochen guter Pokerspieler.«
Jacob setzte sich so abrupt wieder hin, dass der Pfarrer vor Überraschung sein Gesangbuch fallen ließ. Er lächelte unbestimmt in Jacobs Richtung, schien zu überlegen, ob er etwas sagen sollte, machte den Mund auf und wieder zu und öffnete ihn dann, um anzukündigen, dass nun Christopher etwas aus einem Aufsatz von Montaigne vortragen würde.
Alberta hatte den Worten Montaignes mit angespannter Konzentration gelauscht. Ein Satz war ihr im Gedächtnis geblieben: »Es ist ungewiss, wo der Tod uns erwartet – erwarten wir ihn überall!« Das war das Problem. Sie war nicht auf den Tod vorbereitet. Sie hatte nie daran gedacht, dass ihr Vater sterben würde. Für sie war er unsterblich gewesen, und jetzt, da er tot war, schien die ganze Welt verändert zu sein.
Sie wünschte, sie hätte ihre eigene Ansprache nicht so vermasselt. Sie war die Einzige, die eine solche Vorstellung gegeben hatte. Pa wäre nicht erfreut gewesen.
Es war hoffnungslos. Sie war noch nie so hellwach gewesen. Alberta schlüpfte leise, um Tony nicht zu wecken, aus dem Bett. Sie griff nach ihrem Morgenmantel, ging nach unten in die Küche und schüttete Milch in einen Topf.
Was sie am meisten aufwühlte, war die Bescheidenheit der Beerdigung. Die Kirche hätte bis in den letzten Winkel gefüllt sein müssen. Ehemalige und amtierende Minister hätten da sein müssen, Bischöfe und hohe Tiere von der BBC . Stattdessen war da Tante Hilda, die die Journalisten anbrüllte, und eine Kirche, die zu zwei Dritteln leer war. Nicht einmal die Cartwrights waren gekommen. Das hatte Marma mehr als alles andere aufgeregt. Sie hatte bis zur letzten Minute gehofft, dass wenigstens Maurice kommen würde.
Hatte Pa jemanden umgebracht? Nein. Hatte er irgendjemanden betrogen? Nein. Sein Verbrechen war, dass er ein alter Mann war, der für Sex bezahlte. Das, hatte Alberta nach einer langen und schwierigen Diskussion mit Christopher akzeptiert, war eine Tatsache. Sie nahm den Topf vom Herd und goss den Inhalt in einen Becher. Regte sie sich über die Enthüllungen auf? Natürlich regte sie sich auf. Bisher waren Männer, die für Sex bezahlten, aus ihrer Sicht Männer mit einer unverzeihlichen und abstoßenden Einstellung zu Frauen. Auch hatte sie immer angenommen, dass sie hässlich waren und einer Frau auf andere Art nicht nahekommen konnten. Und doch hatten die Frauen Pa immer geliebt. Sie hatte versucht, mit Marma darüber zu reden. Sie hatte sie gefragt, warum sie der Presse gegenüber diesen lächerlichen Satz »So sind die Männer« geäußert hatte. »Das war das Erste, was mir einfiel«, hatte Marma geantwortet. Als Alberta nachhakte und darauf hinwies, Marmas Antwort impliziere, dass sie vom geheimen Leben ihres Vaters gewusst oder es toleriert habe, hatte Marma ungewöhnlich entschieden reagiert. »Ich wusste nichts davon«, sagte sie. »Ich wusste gar nichts. Ich will nichts wissen, und dies ist das letzte Mal, dass ich das Thema erwähne.«
Alberta setzte sich mit ihrem Becher an den Tisch. Vielleicht wollte Marma das Thema vermeiden, weil sie nur zu gut wusste, warum Pa seine sexuellen Bedürfnisse woanders ausgelebt hatte.
Seit vielen Jahren versuchte Alberta, die Erinnerungen an jene schrecklichen Monate nach Eds Tod hinter sich zu lassen, doch ihre Betroffenheit und der Groll gegen ihre Mutter hatten sich wie ein schlechter Geruch gehalten. Vielleicht war es nötig, sich ins Gedächtnis zu rufen, was Marma damals getan, oder besser gesagt, was sie nicht getan hatte.
Albertas Mann starb bei einem Verkehrsunfall und ließ Alberta als Witwe mit einer dreijährigen Tochter zurück. Zu der Zeit lebte Marma bei Christopher und Helen in Kanada. Hatte sie ihre trauernde Tochter angerufen? Kehrte sie Hals über Kopf nach England zurück? Weder noch. Ein Jahr lang rief sie Alberta weder an, noch schrieb sie ihr. Ein Jahr lang blieb sie in Kanada und half ihrer Schwiegertochter mit dem Baby und kein bisschen ihrer Tochter. Alberta fand es mehr als wahrscheinlich, dass eine Mutter, die die Trauer ihrer Tochter ignorieren konnte, sehr wohl eine Frau sein konnte, die die sexuellen Bedürfnisse ihres Mannes ignorierte.
Nichts von alldem rechtfertigte, was ihr Vater getan hatte. Wenigstens war er, dem Interview in der News of the
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