Überraschung kommt selten allein
sagen, sie sollte sich nicht zu sehr in ihre Trauer vergraben. Er konnte sie mal!
Sie ging weiter zu der Grünfläche oberhalb des Prior Parks. Sie wünschte, sie könnte kluge, angemessene Antworten geben auf all die schändlichen Worte, die in der vergangenen Woche über ihren Vater geschrieben worden waren. Wenn Ed noch lebte, wüsste er, was man schreiben musste. Wenn Ed noch lebte, würde er gegen all jene, die den Ruf ihres Vaters verleumdeten, die Stimme erheben. Wenn Ed noch lebte …
Alberta blieb stehen und beschloss, nach Hause zu gehen. Es war an der Zeit, mit der Grübelei aufzuhören. Sie würde nach Hause gehen und einen Film anschauen. Sie würde nach Hause gehen und Zwei glorreiche Halunken gucken.
Tony rief Alberta am Dienstagabend aus London an und fragte: »Wie geht es dir heute?«
»Es tut mir leid, dass du heute Morgen zum Bahnhof laufen musstest. Du hättest mich wecken sollen.«
»Schon gut. Also, was hast du heute gemacht? Hast du wieder einen Film angeguckt?«
»Ja. Ich habe Der Mann aus Laramie geschaut.«
»An den erinnere ich mich gar nicht.«
»Das ist der, in dem James Stewart den Waffenschmuggler jagt, der den Indianern die Waffen verkauft hat, mit denen sie die Kavalleriepatrouille seines Bruders getötet haben.«
»Ich glaube, den habe ich nicht gesehen.« Pause. »Was hast du noch gemacht?«
»Ich habe Jacob ein warmes Frühstück gekocht. Er hat heute Nachmittag eine Englischarbeit geschrieben.«
»Wie ist es gelaufen?«
»Er meinte, es sei leicht gewesen.«
»Gut. Hast du für morgen schon was vor?«
»Ich dachte«, sagte Alberta, »vielleicht schaue ich mir Faustrecht der Prärie an.«
»Aha. Ich muss Schluss machen. Ich rufe dich morgen wieder an.«
Alberta legte das Telefon beiseite. Tonys Stimme verriet eindeutig, dass er sich verboten hatte, mehr dazu zu sagen. Sie konnte sich vorstellen, was dieses mehr gewesen wäre: Reiß dich zusammen, hör auf, dumme Filme zu gucken, tu etwas. Er hat keine Ahnung, dachte sie. Er hat ja keine Ahnung.
Tatsächlich schaute Alberta am folgenden Tag nicht Faustrecht der Prärie . Sie schaute gar keinen Film.
Um halb zwölf hatte sie einen Besucher. Es war Daniel Driver. Er trug weiße Lederslipper, eine blaue Jeans, einen grünen Pullover über einem weißen T-Shirt und ein anthrazitfarbenes Jackett. Alberta waren im ersten Moment ihre ausgebeulte graue Jogginghose, das schwarze, eingelaufene T-Shirt und die abgetragenen Turnschuhe peinlich. Sie sagte: »Ich fürchte, Tony ist in London.«
»Ich habe heute Morgen mit ihm gesprochen«, sagte Daniel. »Ich will dich besuchen.«
»Oh.« Alberta war baff. »Das ist sehr nett von dir, aber ich bin im Augenblick nicht gerade die beste Gesellschaft.«
Jeder normale Mensch hätte den Wink verstanden. Daniel deutete auf das Bäumchen in dem großen Terracottatopf neben der Haustür. »Das Teil gefällt mir. Was ist das?«
»Es ist ein Ahorn«, sagte Alberta. »Ein japanischer Zierahorn.«
»So einen hätte ich auch gerne«, sagte Daniel.
»Hör mal«, setzte Alberta an, dann seufzte sie. »Möchtest du reinkommen?«
»Na gut«, sagte Daniel, als gebe er einer flehentlichen Bitte nach.
Sie ging voraus in die Küche und zeigte auf einen Stuhl. »Möchtest du einen Kaffee? Ich habe gerade frischen aufgegossen.«
»Na gut«, sagte Daniel wieder. Er trat ans Fenster. »Dein Garten gefällt mir richtig gut«, sagte er. »Zu Hause habe ich nur einen ganz kleinen Garten. Dein Ahorn würde da gut aussehen.«
»Da bin ich mir sicher.«
»Die meiste Zeit bin ich ganz glücklich mit dem bisschen Grün, das ich habe. Nur wenn ich einen Garten wie deinen sehe, habe ich das Gefühl, mir fehlt etwas. Du hast großes Glück.«
»Oh ja«, sagte Alberta und stellte zwei Becher auf den Tisch. »Ich habe großes Glück.«
Daniel drehte sich um und musterte Albertas Gesicht. »Es tut mir leid«, sagte er. »Das war dumm von mir.«
»Überhaupt nicht.« Alberta schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich bin im Moment überempfindlich. Ich nehme an, Tony hat dir erzählt, dass ich unerträglich bin. Ich finde diesen ganzen Rummel einfach schrecklich unbarmherzig.«
Daniel zog sich einen Stuhl hervor, setzte sich und legte die Hände hinter den Kopf. »Das ist doch kein Weltuntergang.«
»Was ist kein Weltuntergang? Dass ich unerträglich bin oder dass mein Vater derzeit der Skandal des Monats ist?«
»Dass dein Vater zu einer Prostituierten gegangen ist. Das ist kein Weltuntergang.«
»Ach,
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