Ufer des Verlangens (German Edition)
fuhr sie fort.
»Als der Meister sah, was er angerichtet hatte, rannte er blindlings aus der Werkstatt, ohne sich um die beiden Verletzten zu kümmern. Die alte Magd kam herbei, half dem Jungen und holte Lappen mit essigsaurer Tonerde für Charles’ Bein. Unterdessen war der Meister in die Schmiedewirtschaft gerannt und hatte den anderen Schmieden von dem Unglück berichtet.
Er war durch seinen Jähzorn in eine schlimme Lage geraten. Zeigten ihn der Lehrbube und der Geselle an, so musste der Schmiedemeister sein Lebtag lang für ihren Unterhalt sorgen. Das wollte er natürlich auf gar keinen Fall, und so schmiedete er mit den anderen einen Plan.
In der Nacht, als Charles und der Lehrbub tief und fest vor Erschöpfung schliefen, schlich er sich in deren Kammer und deponierte dort einige silberne Gegenstände, die einen beträchtlichen Wert darstellten.
Als die beiden am nächsten Morgen erwachten, standen schon die Männer des Coroners in der Kammer und bezichtigten sie des heimtückischen Diebstahls. Niemand glaubte ihnen, dass sie zu Unrecht beschuldigt wurden, zumal die anderen Silberschmiede für ihren Handwerksmeisterkumpan ein gutes Leumundszeugnis ablegten. Es geschah, was immer geschieht, wenn ein Armer mit einem Reichen in einen Streit gerät: Der Reiche gewinnt. Das ist wie ein Gesetz.
Der Lehrbub erhielt zwanzig Stockschläge und zwei Wochen Arrest im Kerker, ehe er mit Schimpf und Schande davongejagt wurde.
Charles wurde der goldene Ring aus dem Ohr gezogen und zur Strafe das ohnehin verbrannte Bein nochzusätzlich gebrochen, ehe man auch ihn aus der Stadt jagte.
Seither war er ein Gezeichneter, der sich oftmals nur von den Beeren im Wald ernährte, weil er aufgrund des Schlitzohres keine neue Anstellung fand.« Elizabeth seufzte.
Und aus diesem Grund wollte mein Vater mich ihm nicht zum Weibe geben.«
»Und du? Was hast du gemacht, Elizabeth?« Die alte Frau lachte leise. »Was sollte ich tun? Ich liebte Charles. In seinen Augen konnte ich seine Seele sehen und wusste daher, dass er die Wahrheit sprach. Weißt du, Zelda, die Dinge sind nicht immer so, wie sie sich uns auf den ersten Blick darstellen. Für alles gibt es Gründe.
Ich floh mit Charles, weil ich mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen konnte. Eher wollte ich hungern, als ohne ihn sein zu müssen. Wir flohen in der Nacht. Niemand sah uns, niemand suchte nach uns. Durch halb Schottland ging unsere Flucht. Bis hierher nach Bluecastle.
Ich hatte Glück und kam bei einer Wehfrau unter, sodass ich für Charles und mich sorgen konnte. Später, als die Wehfrau zu alt war, übernahm ich die gesamte Arbeit. Doch Charles hat wohl nie verwinden können, dass er als Schlitzohr gebrandmarkt war. Er war ein geschickter Silberschmied, aber die Schmiede in Bluecastle beschäftigten ihn immer nur für eine Zeit und wenn, dann heimlich.
Er starb nach zehn gemeinsamen Jahren.« »Du liebst ihn noch immer, nicht wahr, Elizabeth?« »Ja, das tue ich. Charles ist der Mann meines Lebens. Niemand auf der ganzen Welt kann ihn ersetzen.«
Eine kleine Weile schwiegen die beiden Frauen. Jede hing ihren eigenen Gedanken nach. Elizabeth erinnerte sich an früher, an ihre glücklichsten zehn Jahre mit Charles.
Und Zelda? Zelda dachte an Ian. Vielleicht war Joan tatsächlich mit ihm geflohen, weil ein Leben ohne ihn kein Leben für sie wäre.
Aber im Grunde glaubte Zelda nicht daran. Auch sie hatte das Gefühl gehabt, auf den Grund von lans Seele blicken zu können. Sie hatte Liebe darin gesehen, eine tiefe, wenngleich auch noch sehr junge Liebe. Nein, sie konnte sich nicht getäuscht haben. Ob es möglich war, dass er aus Not zum Mädchenräuber geworden war? Konnte es sein, dass nicht die Habgier ihn getrieben hatte, sondern die pure Verzweiflung?
Zelda wünschte sich von ganzem Herzen, dass es sich so verhielt. Aber sie würde es niemals herausbekommen, wenn sie nicht bald in Edinburgh landete.
»Du hast mir die Geschichte deiner Liebe wegen Ian erzählt, nicht wahr?«, fragte Zelda.
Elizabeth nickte. »Verurteile ihn erst, wenn du mit ihm gesprochen hast. Dein Herz sagt Ja zu ihm. Noch immer. Deshalb habe ich dir diese Geschichte erzählt. Sieh immer hinter die Dinge, Zelda. Glaube niemals dem ersten Anschein.«
Zelda nickte. »Ich muss nach Edinburgh. So schnell es geht.«
Elizabeth stand auf und sah aus der zerbrochenen Fensterluke.
»Es dämmert gerade. Lass uns noch eine kleine Weile warten, ehe wir losgehen. Gewiss sucht man nach uns. Wir
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