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Ufer des Verlangens (German Edition)

Ufer des Verlangens (German Edition)

Titel: Ufer des Verlangens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Hamilton
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kannte den Aberglauben. Alle in ihrem Manor und den umliegenden Gebieten kannten ihn. Berühre niemals einen Toten, den du nicht kennst, sonst übertragen sich alle schlechten Eigenschaften seiner Seele auf die deine. Wie oft hatten die Mägde und Ammen darüber gesprochen. Oh, Zelda erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem eine der Mägde heulend und zitternd nach Hause gekommen war.
    Sie war auf dem Friedhof gewesen, um das Grab ihrer Mutter zu pflegen, so, wie es sich gehörte.
    Der Henkersknecht war gerade dabei gewesen, einen Landstreicher zu verscharren, den man tot im Wald gefunden hatte. Genau in dem Augenblick, als er die Leiche von seinem Karren schubste, ging die Magd an ihm vorbei. Die Hand des Toten griff nach ihr, verhakte sich in ihrem Rock, der Tote fiel in die Grube, doch die Hand hing am Rock der Magd fest. Erst der Henkersknecht hatte die schreiende Frau schließlich befreit.
    Von diesem Tag an hatte sie sich verändert. Die Seele des toten Landstreichers war in sie geschlüpft. Wortkarg war sie geworden, und das Lachen der einstmals so fröhlichen Frau erstorben.
    Am Schluss war sie ins Wasser gegangen.
    Die Köchin hatte zu berichten gewusst, dass sie ein Kind unter dem Herzen getragen hatte und deshalb sterben wollte, doch die alten Weiber im Dorf hatten es besser gewusst: Die Magd war ins Wasser gegangen, weil die Seele des Toten es ihr befohlen hatte.
    Und jetzt saß Zelda selbst inmitten von Kadavern. Der nackte Fuß eines der Gehängten war gegen ihren Stiefel gestoßen.
    Was war, wenn die Alten Recht hatten und die schlechten Eigenschaften des Gehängten durch das Stiefelleder und hinein in ihre Seele gelangten?
    Zelda schluckte und suchte mühsam nach Worten. »Weshalb ist der da gehängt worden?«, fragte sie. Ihre Stimme klang rau und zitterte.
    Der Mann zuckte mit den Achseln. »Weiß Gott, was sich der arme Teufel hat zu Schulden kommen lassen? Am Galgen landet man schneller, als man gucken kann.«
    Er drehte sich um und sah in Zeldas kalkweißes Gesicht.Sein Grinsen erstarb beim Anblick der entsetzten Frauen.
    »Nun mal langsam«, brummte er. »Lasst Euch nicht von den Albernheiten der alten Weiber ins Bockshorn jagen. Ihr braucht Euch nicht zu fürchten. Ich habe schon mehr Leichen berührt, als ich zählen kann. Mörder waren darunter, Gotteslästerer und Unzüchtige aller Art. Stimmte der Aberglaube, so müsste ich nun mit lästerlichen Reden Unzucht treiben und anschließend meine Opfer ermorden. Aber das habe ich nie getan und werde es auch nicht tun.«
    Er lachte wieder. »Stellt Euch nur vor, wie viele Menschen es danach verlangt, einen toten König zu berühren. Hat man jemals gehört, dass diese danach selbst Könige wurden?«
    Er drehte sich wieder um, gab den Pferden die Peitsche, und der Karren rumpelte weiter.
    Allmählich beruhigte sich Zeldas Herzschlag. Sie griff nach Elizabeths Hand und sah die alte Frau an.
    »Glaubst du auch, dass die Seelen der Toten von uns Besitz ergreifen?«, fragte sie. »Oder hat der Mann auf dem Bock Recht?«
    Elizabeth sah Zelda aufmerksam an, ehe sie antwortete: »Ich glaube, unser Mann hier, der selbst Henker zu sein scheint, hat Recht. Die Seelen der Menschen gehören Gott. Die guten wie die schlechten. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
    Schweigend rollte das Fuhrwerk weiter. Plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Wolken zogen auf, jagten wie junge Pferde über die Hügelketten hinweg. Der Wind frischte auf und blies bald so heftig, dass die Blätter nicht mehr leise säuselten, sondern einen Klagegesang anstimmten.
    Der Mann schaute zum Himmel, leckte sich den Zeigefinger und hielt ihn prüfend in die Luft. Dann schnalzte er mit der Zunge, trieb die Pferde zur Eile an und sang dabei ein Lied:
»Ed geht eine dunkle Wolk’ herein,
mich deucht, es wird ein Regen sein,
ein Regen aus den Wolken,
wohl in das grüne Gras.
Und scheint die liebe Sonn’ nicht bald,
so welken all die Blumen im Wald,
und auch die vielen Tiere,
die haben frühen Tod. «
    Elizabeth summte zuerst mit, doch dann stimmte sie in den Gesang ein, leise erst, dann immer lauter, und zum Schluss sangen alle drei das alte schottische Lied.
    Singend gelangten sie zu einem kleinen Gehöft, welches in einiger Entfernung zum nächsten Weiler lag. Der Mann hielt das Fuhrwerk an und half den Frauen beim Absteigen.
    »Ihr solltet hier bei mir bleiben, bis das Unwetter vorübergezogen ist. Es wird gewiss nicht lange dauern, dann klart es auf, und wir können

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