Ufer des Verlangens (German Edition)
strich noch einmal über die Hand der jungen Frau.
»Doch seht Euch vor, wenn Ihr ein Kind unter dem Herzen tragt. Lasst die Männer die schweren Zuber schleppen, denn von dieser Seite droht dem ungeborenen Kind Gefahr.«
Zelda dachte nicht lange über ihre Worte nach. Sie erkannte, dass Esmeralda Recht gehabt hatte. Es war wirklich nicht schwierig, jemandem aus der Hand zu lesen. Auch das Mädchen hatte mit der Art, in der es seine Fragen stellte, bereits sehr viel über sich verraten. Mehr wohl, als ihm selbst bewusst war.
Zelda sah noch einmal in das Gesicht ihr gegenüber. Und jetzt entdeckte sie auch die Narbe über der rechten Augenbraue. Es war eine Narbe, die von einem Schlag herrührte. Unruhig begannen die Augen des Mädchens unter Zeldas Blick zu flackern.
Zelda erkannte Angst darin.
Sie senkte den Kopf und beugte sich wieder über die Hand der jungen Frau. »Es gibt da jemanden, der Euch Übles will. Ein Mann ist es, so glaube ich.«
Das Mädchen nickte.
»Es könnte Euer Vater oder aber Euer Dienstherr sein. Er behandelt Euch schlecht. In Eurer Hand steht geschrieben, dass Ihr sehr mutig und tapfer seid. Ihr solltet Euch wehren, wenn Euch wieder einmal ein Unrecht angetan wird.«
»Es ist mein Stiefvater«, flüsterte sie. »Er nennt mich einen Tölpel. Für jeden Fehler, den ich mache, prügelt er mich. Kaum ist er in meiner Nähe, so werde ich ungeschickt. Eine Schüssel fällt mir zu Boden, oder ich stoße den Wasserkrug um, dass er sich über den Tisch ergießt.«
Zelda empfand Mitleid. Sie hätte sich eine solche Behandlung bestimmt nicht gefallen lassen. Doch dieses Mädchen war anders als sie. Es war nicht geschaffen, um sich zu wehren.
Krampfhaft überlegte Zelda nach einer Möglichkeit, der jungen Frau trotzdem zu helfen.
»In Eurer Hand lese ich«, sagte sie schließlich und verstieß schon bei ihrer ersten Kundin gegen die ungeschriebenen Regeln der Handleser, die besagten, dass niemandem etwas Schlechtes prophezeit werden durfte, »dass es in Eurer Familie bald einen Verlust geben wird. Der Tod kündigt sich an. Doch er betrifft niemanden, den Ihr liebt. Aber jemanden, dem Ihr Respekt zu schulden glaubt.«
Die junge Frau erschrak und riss die Augen weit auf.
»Gibt es etwas, was man dagegen tun kann?«, fragte sie aufgeregt.
Zelda zuckte mit den Achseln. »Ich müsste die Hand desjenigen lesen, dann könnte ich Euch eine Antwort geben. Wisst Ihr denn, um wen es sich handeln könnte? Ich sagte ja schon, in der Hand stehen keine Namen geschrieben.«
»Mein Stiefvater!«
»Schickt ihn zu mir. Vielleicht kann ich ihm helfen«, erwiderte Zelda und war ein kleines bisschen stolz auf ihre List, denn in der Hand des Mädchens hatte natürlich nichts dergleichen gestanden.
»Gleich gehe ich und hole ihn«, versprach die junge Frau, holte zwei Kupfermünzen aus ihrer Rocktasche und legte sie vor Zelda auf die Decke.
Es vergingen nur wenige Minuten, da stürmte ein grobschlächtiger Mann mit rot geädertem Gesicht und den blutunterlaufenen Augen eines Säufers zu ihr.
»Aus der Hand sollt Ihr mir lesen«, forderte er barsch.
Zelda sah hoch und blickte den Mann ruhig an. Sie las Angst in seinen Augen, das Mädchen musste wohl geplappert haben.
»Schickt Euch wer, oder kommt Ihr aus eigenem Antrieb?«, fragte sie, um ganz sicher zu sein, dass es sich tatsächlich um den Stiefvater des Mädchens handelte.
»Die Dirne da hat mich geschickt. Der Tod lauert nach mir, hat sie gesagt.«
Er streckte Zelda seine Hand hin, die abgearbeitet war, mit schwarzen Furchen und gekrümmten Fingern, die an abgestorbene Zweige erinnerten.
Zelda nahm die Hand und betrachtete sie. Dabei zog sie ein sorgenvolles Gesicht.
»Was lest Ihr? Los, Weib, redet!«
»Nun, ich sehe Unheil. Die dunklen Seiten Eurer Seele ergreifen allmählich die Macht über Euren Körper und über Euren Geist. Aber noch ist es Zeit, dem Unheil auszuweichen.«
»Wie? Sagt mir, wie ich das anstellen kann, die bösen Geister zu vertreiben!«, forderte er mit einer Stimme, die es gewohnt war, Befehle zu erteilen, die ohne Widerspruch befolgt wurden.
»Die dunklen Seiten Eurer Seele haben nur dann Macht über Euch, wenn Ihr zu viel vom Ale trinkt. Am Morgen leuchtet Eure Seele weiß und unschuldig. Doch mit jedem Becher verfärbt sie sich dunkler und dunkler. Und am Abend wisst Ihr oft nicht mehr, was Ihr tut. So, als steckte ein böser Geist in Euch.«
»Das stimmt«, gab der Mann zu, froh darüber, dass er im Grunde nichts für
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