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Ufer von Morgen

Ufer von Morgen

Titel: Ufer von Morgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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meisten dieser Männer waren glücklich. Die Gewerkschaften sicherten ihnen die Arbeitsplätze. Krankenkassen verhinderten, daß Krankheiten zu finanziellen Katastrophen wurden. Die öffentliche Fürsorge sprang ein, wenn der persönliche Streß unerträglich wurde. Regierung und Firma kümmerten sich um Renten, auf die man sich nur freuen konnte. Und das Wichtigste war, daß sie ihre Entwicklungsmöglichkeiten völlig auslebten. Sie machten die Arbeit, die ihnen geistig und körperlich lag. Nicht einer von ihnen sehnte sich danach, etwas anderes zu sein. Keiner hatte das Verlangen, Romane zu schreiben, den Nobelpreis für Physik zu erhalten oder vielleicht Professor der Soziologie an der Columbia University zu werden. Sie waren zufrieden.
    Hin und her, hin und her. Ehrlicher Schweiß tropfte auf Wilsons Flanellhemd. Nach sieben Wochen war sein Körper wieder in Form. Seine Muskeln, die seit der frühen Collegezeit aus der Übung gekommen waren, taten ihm nicht mehr jeden Abend weh.
    Schlepp das Stück, pack den Ballen…
    Dann war Frühstückspause. Wilson hörte ausgiebig zu und stellte ein paar vorsichtige Fragen. Jeden Tag legte er neue Schätze frei. Die Einstellung zu den Eltern, zu Kindern, zur organisierten Religion, zur Regierung. Was man über Sex dachte, ehelichen wie außerehelichen, was man sich von der Zukunft erhoffte, welcher Ehrgeiz vorhanden war oder fehlte. Wilson nahm alles in sich auf. Wenn er seine Doktorarbeit vollendete, würde sie ein wichtiges Dokument der Denkweisen des Arbeiters darstellen. Das hoffte Wilson wenigstens.
    Es wurde zur Mittagspause geläutet. Gewöhnlich spielte die Gruppe der Lader auf der breiten Straße am Kai ein Ballspiel. Wilson fiel ein, daß er heute ein Telefongespräch führen mußte. Er wollte Brewster vom Institut für den Fortschritt der Menschheit anrufen.
    Das Gespräch würde zum Lachen sein, dachte er. Und vielleicht konnte er Material für einen weiteren Artikel für die Republic herausschinden. Ein Interview, Auge in Auge mit einem Erzreaktionär, oder ungefähr in dieser Richtung.
    Wilson tätigte den Anruf von einem Öffentlichen Telefon aus, das sich in einem Süßwarenladen drei Straßen vom Lagerhaus entfernt befand. Er steckte die Münze hinein, wählte die Nummer und wartete.
    Eine ölige Frauenstimme sagte: »Null-fünf-drei-sechs-eins. Wer spricht bitte?«
    »Ah – hier ist Wilson. Ich möchte gern Mr. Brewster sprechen.«
    Einen Augenblick war Stille, nichts von dem Theater, das die meisten Sekretärinnen heutzutage aufführen, wie z.B. »Wird Ihr Anruf erwartet?« und so weiter.
    Eine tiefe Stimme sagte ruhig: »Ach, hallo, Mr. Wilson. Ich bin sehr erfreut, daß Sie sich die Zeit genommen haben, mich anzurufen. Werden Sie uns bald besuchen kommen?«
    »Ja, ich würde gern bei Ihnen vorbeischauen. Wenn Sie mir in etwa sagen könnten, wann Sie frei sind?«
    »Ich bin bei meiner Zeiteinteilung äußerst flexibel«, versetzte Brewster. »Ich könnte mich schon heute nachmittag mit Ihnen treffen, wenn Ihnen das recht ist.«
    »Da liegt schon die Schwierigkeit. Nachmittags geht’s unmöglich. Ich – ich führe im Augenblick ein Forschungsprogramm durch. Da habe ich fünf Tage die Woche von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags zu tun. Ich könnte frühestens nach sechs in Ihrem Büro sein, und –«
    »Sechs Uhr ist sehr gut, Mr. Wilson. Ich bin sehr gespannt auf das Gespräch mit Ihnen.«
    »Wenn sechs Uhr geht, könnten wir uns eigentlich für morgen abend verabreden.«
    »Prächtig«, sagte Brewster. »Mein Büro ist im achtundzwanzigsten Stock. Ich bin sicher, Sie werden es leicht finden. Bis morgen dann. Um sechs.«
    Wilson legte auf und runzelte die Stirn. Brewsters Freundlichkeit und die Bereitwilligkeit, es auf jeden Fall zu einem Treffen kommen zu lassen, verwirrten ihn. Er hatte nicht diese Reaktion erwartet, nach allem, was er in seinem Artikel geschrieben hatte.
    ›Diese unheimliche Organisation, die vermutlich durch die Zuwendungen egoistischer Industriekapitäne finanziert wird, die heimlich, im Verborgenen, daran arbeitet, jeden bedeutenden sozialen Fortschritt des zwanzigsten Jahrhunderts rückgängig zu machen… dieser Verband aufgeregter Reaktionäre, die auf ihre Weise so radikal wie die nihilistischsten Bombenwerfer des letzten Jahrhunderts sind… dieses Unternehmen mit dem paradoxen Namen, das den menschlichen Fortschritt im Namen des Fortschritts der Menschheit aufhalten möchte…‹
    Nein, er war überhaupt nicht

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