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Ufer von Morgen

Ufer von Morgen

Titel: Ufer von Morgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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nett zu dem Institut gewesen. Und er hatte jetzt so etwas wie ein Schuldgefühl, da er wußte, daß er den Artikel nicht vollständig recherchiert hatte. Die Grundlage für seinen Bannspruch über das Institut hatten Zeitungsanzeigen, Propagandamaterial und öffentliche Erklärungen abgegeben. Aus ihnen war sein Standpunkt deutlich abzulesen gewesen, und er hatte keine Zeit gehabt, persönlich Verbindung aufzunehmen. Nun, das macht nichts, dachte er. Es gab keinen Grund, warum sie nicht gebildete, reizende Leute statt der finsteren Ränkeschmiede sein konnten, als die er sie dargestellt hatte. Die Tatsache blieb jedoch bestehen, daß ihre Ansichten gefährlich reaktionär waren und eine Bedrohung für das Gemeinwohl darstellten.
    Er trat aus dem Telefonhäuschen und wurde wieder zum Gewerkschaftsmitglied Howie Wilson. Howie verschluckte die Endsilben der Worte und sprach grammatikalisch ungenau. Er kehrte zum Lagerhaus zurück, aß sein Mittagessen, ein Sandwich mit Geflügelsalat und einen Apfel, und machte bei dem Ballspiel mit.
    Am Nachmittag wechselte er von der Laderampe zu dem Teil hinüber, an dem entladen wurde, weil alle Lastwagen der Firma vor dem Mittagessen beladen worden waren und jetzt auf ihren Auslieferungsrunden durch die Stadt waren. Vor dem Lagerhaus hielten Lieferwagen an und luden ihren Inhalt aus. Küchentische aus Trenton, Lampen aus Baltimore und Schlafzimmer aus Iowa. Trotz Überschallflugzeugen und Höchstgeschwindigkeitszügen waren die schweren Lastwagen immer noch die billigsten Transportmittel.
    Wilson entlud und schleppte den ganzen Nachmittag, von einer Pause um Dreiviertel drei abgesehen. Um fünf wurde zum Ende der Arbeitszeit geläutet. Die Männer schlurften nacheinander an der Stechuhr vorbei und auf die Straße hinaus. Die sinkende Septembersonne hing über den trüben Fluten der Bucht, sie war ein aufgeschwollener roter Ball. Männer in abgetragener Kleidung strebten ihrem Zuhause mit Fernsehgeräten, ungepflegten Frauen und einfachen Vergnügungen zu.
    Wilson war in zwanzig Minuten daheim. Sorine empfing ihn mit einem Kuß und einem Manhattan. Der Cocktail war das symbolische Zeichen, daß sich Howie wieder in Howard Wilson zurückverwandelte. Leute vom College tranken Cocktails, Arbeiter Bier. Wer behauptet eigentlich, Amerika sei eine klassenlose Gesellschaft, fragte sich Wilson. Überall gab es Anzeichen einer Schichtung.
    »Müde?« fragte Sorine.
    »Nicht sehr. Die Arbeit macht mir langsam Spaß. Ich fange an zu spüren, daß die Muskeln des menschlichen Körpers ihren Sinn haben.«
    »Soll ich dich massieren?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein, Schatz, danke. Ich verkrampfe nicht mehr. Ich sag’ dir, ich werde noch zu einem richtigen Lagerarbeiter. Ich beneide die Burschen. Die müssen den ganzen Tag lang einfach nur Kisten hin und her schleppen. Ich muß das auch, aber ich habe dabei noch ständig zu denken, sie zu beobachten, ihnen zuzuhören, im Geist Notizen für meine Doktorarbeit zu machen.«
    Sorine lachte. »Du kannst das akademische Leben jederzeit an den Nagel hängen und ständig dort arbeiten, weißt du. Ich bin sicher, das ließe sich einrichten. Dann würdest du nicht einmal mehr nachdenken müssen. Du würdest acht Stunden lang einfach nur Möbel schleppen.«
    »Und dabei langsam den Verstand verlieren«, sagte Wilson.
    »Das würdest du vielleicht. Aber stell dir vor, wie glücklich du dann sein würdest.«
    Er schlüpfte hinter seinen Schreibtisch. Er schrieb am liebsten um diese Zeit. Die Gedanken des Tages tummelten sich noch frisch in seinem Kopf.
    Sorine fragte: »Hast du Brewster angerufen?«
    »Ja, ja. Hab’ mich für morgen abend sechs Uhr verabredet. Ich komm’ erst her, rasiere mich und zieh mich um. Möchte nicht, daß er mich in meinen Lagerhausklamotten sieht.«
    Das Gebäude war nagelneu, war gebaut worden, als man gegen Ende der siebziger Jahre die Slums im mittleren Teil von Manhattan abgerissen hatte.
    Wilson kam sich in seiner alten Universitätskluft mit Krawatte und so weiter merkwürdig vor. Sieben Wochen hatte er alte Sachen zur Arbeit und zu Hause nichts als bequeme Kleidung angezogen. Für das Treffen wollte er jedoch so schick wie möglich aussehen. Sorine hatte ihm den besten Anzug bereitgelegt, hatte ihm beim Anziehen Enthaarungscreme auf die Backen gestrichen. Dann war er rasch gegangen. Kurz vor sechs verließ er die U-Bahnstation am Times Square. Genau um sechs ging er durch die Lichtschranke der Tür, neben der Institut

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