Ufer von Morgen
Vorlesung über Psychometric hatte aufsuchen lassen, als er seinen M.A. in Soziologie machte. Sie war der ideale Partner für ihn, bedeutete ihm als Frau wie auch als Hilfe bei seinen Forschungen so viel, daß er sie in Fermium hätte aufwiegen mögen.
»Bin wie immer um Viertel nach fünf zu Hause«, sagte er.
»Gut. Wirst du das Institut anrufen, um etwas auszumachen?«
Er nickte. »Wenn ich in der Mittagspause weg kann. Ich schau mal, wie’s läuft.«
Es war morgens fünf nach halb acht, als Howard Wilson, B.A. M.A. Assistant Professor der Soziologie an der Columbia University, seine Wohnung in Manhattan verließ. Sie lag in einer Gegend, in der Leute der Mittelklasse lebten. Im Augenblick sah er gar nicht wie ein Lehrbeauftragter der Soziologie aus. Er trug eine Arbeitsjacke, die an den Knopflöchern ausfranste, sowie eine schwere, grüne Latzhose. Im Gesicht standen bräunlichrote Bartstoppeln. Er rasierte sich jetzt nur alle zwei Tage, und wenn, dann am Abend, damit er am nächsten Morgen immer noch schlecht rasiert aussah. Er hatte wie alle anderen Arbeiter auch eine Butterbrotdose bei sich, und in der Tasche hatte er eine Karte, die ihn als vollzahlendes Mitglied der Gewerkschaft auswies, die über das Lagerhaus Aufsicht führte, in dem er arbeitete.
Er machte diese Arbeit seit sieben Wochen. Und er redete sich gern ein, daß seine Kollegen den Collegeprofessor hinter der Fassade noch nicht entdeckt hatten, weil er sich so geschickt in der Sprache des Volkes ausdrücken konnte und ständig mehr über die Sitten und Bräuche der einfachen Arbeiter lernte. Seine Doktorarbeit über die ›Soziokulturellen Haltungen ungelernter Arbeiter‹ wurde jede Nacht ein paar Seiten dicker. Er schrieb eine Stunde, von halb sechs bis halb sieben, und nach dem Abendessen diskutierten und kritisierten er und Sorine die Seiten, die er am Abend zuvor geschrieben und die Sorine tagsüber mit der Maschine getippt hatte.
Die Doktorarbeit machte Fortschritte. In der Mappe lagen fast schon achtzig Seiten der endgültigen Fassung. Während er in der Untergrundbahn nach Südosten rollte, wälzte er angenehme Gedanken in seinem Kopf. Doktor Howard Wilson. Professor Wilson, ohne pedantisch unterscheidende Zusätze wie ›Assistant‹ oder so prosaische Bezeichnungen wie ›Lehrbeauftragter‹.
Er hatte ein Jahr unbezahlten Urlaub von seinem Lehrauftrag an der Columbia University. Ein Jahr war eigentlich nicht ausreichend, um die Sache ordentlich zu machen, aber er meinte, in der Zeit wenigstens die Materialsammlung zum Abschluß bringen zu können. Er hatte von der Dornfeld Stiftung eine Studienbeihilfe von 3000,-Dollar bekommen, und die Arbeit, bei der er Material sammelte, brachte pro Woche noch einmal netto siebzig Dollar. Sorine verdiente halbtags Geld als Lehrkraft, und da er ab und zu mit Artikeln ein wenig Geld machte, die er als freier Mitarbeiter liberaler Wochenschriften verfaßte, kam die Familie Wilson finanziell in etwa klar. Wenn Kinder dagewesen wären, hätte es allerdings anders ausgesehen. Wilson und Sorine waren jedoch übereingekommen, auf Nachwuchs noch zu verzichten, bis er seinen Doktor an Land gezogen hatte. Wenn er dann mit Sicherheit, Lehramt und Würden ausstaffiert war, würde man sich ein oder zwei Kinder leisten können.
»Brooklyn Bridge«, meldete sich die Ansage der U-Bahn. »Umsteigen zur U-Bahn nach Brooklyn.«
Wilson verließ automatisch den Wagen, lief über den Bahnsteig zu einem hell erleuchteten Gang hinunter. Die U-Bahn nach Brooklyn wartete schon. Es war neun Minuten vor acht. Er stieg ein. Wenige Augenblicke später raste der Zug aus dem Bahnhof und fuhr mit hundertzwanzig Stundenkilometern unter dem Fluß hindurch.
Um drei vor acht trat Wilson aus der U-Bahnstation. Es war ein frischer Septembermorgen, und der Wind wehte vom Fluß her. Er schritt schwungvoll den langen Hang hinunter. Unten erhob sich in Nähe des Wassers das große, graue, achtzigjährige Lagerhaus.
Um acht ging er an der Stechuhr vorbei, legte seinen Daumen an die vorgeschriebene Stelle zur Überprüfung seiner Identität und steckte seine Karte in die Uhr. Er legte sie ab, betrat das Lagerhaus, ließ die Persönlichkeit des Howard Wilson, M.A. fallen und zwang sich, Howie Wilson, Arbeitsgruppe 14b (ungelernter Lagerarbeiter), zu sein.
Zunächst war es Wilson nicht eingefallen, sein Material auf diese Weise zu sammeln. Er hatte vorgehabt, Hafenbecken und Bergwerke mit einem Kleinsttonbandgerät aufzusuchen, mit
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