Uferwald
blickte auf ihre Notizen. Der Name Luzie Haltermann kam ihr bekannt vor. Nein, es war nur der Vorname. Eine Luzie gab es auch in Gosslers Tagebuch.
»Ich denke, wir fahren jetzt erst einmal los«, fuhr Orrie fort, »und warten auf halber Strecke. Vielleicht kommt diese Luzie Haltermann in einer halben Stunde nach und hat unseren Vogel dabei, wie zufällig aufgelesen. Den Kollegen in Dietenheim und im Bayerischen drüben sagen wir auch Bescheid, und vielleicht kannst du noch jemand von euren Leuten hinschicken, der ein Auge auf die Wohnung der Haltermann hat.«
Orrie gab die Adresse durch und außerdem noch die Kennzeichen der beiden Autos, die auf dem Hof standen. »Und fröhliche Überstunden auch!«
Tamar legte auf und nahm sich noch einmal die Kopien des Gossler-Tagebuchs vor. Tilman hatte eine Luzie gekannt, sie war mit Matthes liiert gewesen, aber Tilmans Verbindung zu Keull war über Solveig hergestellt worden.
Das ergab alles keinen Sinn. Kuttler müsste mehr wissen. Aber Kuttler war weiß der Teufel wo.
Und überhaupt, warum war Keull davongelaufen? Erpressung verjährt nach fünf Jahren. Falls er es überhaupt gewesen war, der dem Rechtsanwalt Dannecker die Daumenschrauben angesetzt hatte.
Also? Tamar schüttelte den Kopf und griff nach der Teekanne, aber die war leer. Also stand sie auf, holte frisches Wasser und steckte den Tauchsieder ein. Wieder ging ihr Dannecker durch den Kopf. Der Anwalt war inzwischen zu Hause dabei, sich in seiner ganzen Jämmerlichkeit von der Ehefrau trösten zu lassen, einen Haftbefehl hatte Staatsanwalt Desarts noch immer nicht beantragen wollen.
»Es reicht, wenn er seinen Reisepass abgibt«, hatte Desarts erklärt. »Schließlich räumt er die Unterschlagungen ein, und dass er den jungen Mann absichtlich totgefahren hat, das dürfen Sie gerne glauben, nur beweisen können Sie es nicht.«
Natürlich hatte Desarts Recht. Es war noch viel zu früh, etwas über den Tod des Tilman Gossler zu sagen. Ohne die Aussagen von Keull und – vor allem – dieser Solveig war überhaupt nichts aufzuklären. Aber aus Paris war noch immer keine Nachricht da.
Das Wasser kochte. Weil sie müde war und weil es ein langer Abend werden würde, warf sie vier Teebeutel in die Kanne und goss das Wasser auf. Etwas besorgt dachte sie daran, dass sie Keull – wenn er denn überhaupt in den nächsten Stunden gefunden würde – nicht sehr lange würde festhalten können. Es sei denn...
In den Gedanken hinein, der ihr gerade kommen wollte, öffnete sich die Tür. Grau im Gesicht, ein fleckiges Pflaster auf der Stirn, schlich sich ein schemenhaft-unscheinbares Gespenst in einem unpassend hellen Mantel und mit einer Reisetasche in der Hand zu Kuttlers verwaistem Schreibtisch.
»Guten Abend auch«, sagte Kuttler.
»Was willst du hier?«, fragte Tamar, statt den Gruß zu erwidern. »Du bist krankgeschrieben. Hast du sie noch alle? In diesem Zustand? Und wo hast du überhaupt die ganze Zeit gesteckt? Hast du eine Ahnung, wie oft ich versucht habe, dich zu erreichen?«
»Nein«, sagte Kuttler.
»Was nein?«
»Ich weiß nicht, wie oft du angerufen hast. Ich hab das Handy ausgeschaltet.« Tamar zuckte die Achseln. Sie schenkte ihre Tasse halb voll, um zu sehen, ob der Tee gezogen hatte. Die Farbe war kräftig genug, und sie warf die Teebeutel in den Papierkorb.
»Hast du was erreicht?«
Hab ich das?, überlegte Tamar. »Ein bisschen was. Dannecker hat die Unterschlagungen gestanden, er hat damit sein Liebesleben finanziert, das war offenbar recht aufwendig, erst eine uneheliche Tochter, später diese Solveig, und deshalb ist es auch durchaus nicht aus der Welt, dass er den Tilman totgefahren hat. Außerdem ist dieser Bildhauer abgehauen, als wir mit ihm über Dannecker und Tilman reden wollten.«
»Nett.«
»Ja«, antwortete Tamar mechanisch. »Aber was, bitte, geht dich das an?«
Kuttler, noch immer im Mantel, stellte seine Reisetasche auf dem Schreibtisch ab und drehte sich langsam um.
»Es ist mein Fall«, sagte er leise. »Hast du das vergessen?«
Tamar schrak hoch. Nein, dachte sie. Das ist nicht dein Fall. So etwas gibt es nicht. Schon gar nicht, wenn einer krankgeschrieben ist. Und ein Disziplinarverfahren am Hals hat.
»Nein, ich hab es nicht vergessen«, antwortete sie. »Aber wir konnten schlecht warten, bis du wieder fit bist.«
»Schon gut. Was willst du als Nächstes tun?«
»Warten, dass wir Keull einkassieren. Und dass die französischen Kollegen uns diese Solveig
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