Uferwald
verstand.
Es hatte ihm nichts ausgemacht. Appetit hatte er keinen. Nur jetzt hatte er Hunger. In seinem Kühlschrank fand er noch eine Dose Corned Beef, aber kein Bier. Außerdem hatte er noch eine angebrochene Packung Knäckebrot. An der Dose befand sich ein Schlüssel, um sie zu öffnen. Nach zwei Umdrehungen brach der Schlüssel ab. Das ist kein Problem, wenn man einen Dosenöffner hat.
Natürlich besaß er keinen.
Er setzte sich, noch im Mantel, in seinen Korbsessel. Irgendetwas drückte an seinem Oberschenkel. Eigentlich sollte er sich ausziehen und sich auf seinem Matratzenlager unter der Decke verkriechen und das Licht ausmachen und die Welt da draußen vergessen, mindestens bis zum nächsten Frühjahr. Aber er war zu müde dazu.
Das Ding drückte noch immer. Er musste sich im Sessel zur Seite wenden, um danach zu tasten. Das Ding war sein Handy. Er holte es aus der Manteltasche und schaltete es ein. Warumer das tat, wusste er nicht. Vielleicht nur deshalb, weil es gerade so in seiner Hand lag. Er gab die Kennnummer ein, das Gerät meldete sich mit dem albernen Piepsen, das er nicht abstellen konnte, und auf dem Display erschien eine Mitteilung, offenbar hatte ihm Tamar den ganzen Speicher voll gequasselt.
Er war noch immer zu müde, um ins Bett zu gehen, und so begann er, die Nachrichten abzuhören.
»... Kuttler, ich muss wissen, wo du steckst, wir haben den Armbruster...«
Kuttler drückte die Löschtaste. Nächste Nachricht:
»Wo zum Teufel...«
Löschtaste.
»Kuttler, bitte...«
Löschtaste.
»Ja, hier ist die Angie Falter, Sie waren doch letzte Woche bei mir, wegen Tilman, und haben mir Ihre Karte dagelassen. Ob Sie mich mal anrufen? Ich hätte Sie gerne was gefragt.«
D er BMW glitt aus der Tiefgarage, mit seinem gelassen und katzengleich schnurrenden Motorengeräusch, schob sich in den ausklingenden Abendverkehr, bog nach rechts ab, beschleunigte und schoss vor einem behäbig seiner Vorfahrt nachhängenden Daimler auf den Inneren Ring, pendelte kurz auf die Gegenfahrbahn, zog – noch einmal beschleunigend – an der Straßenbahn vorbei und scherte vor der Ampel, die auf Rot stand, wieder nach rechts ein. Die Straßenbahn klingelte zornig, Manfred Czybilla hob die Hand und winkte zurück, Entschuldigung! sollte das heißen, oder genauer: Nimm es nicht so ernst, Kumpel, ich hab einen guten Job gemacht, und wer das tut, der darf auch einen Zahn schneller fahren.
Was er jetzt brauchte, war erst einmal Musik, irgendwas von den ganz besonders feinen Sachen. Was passte zu: Herr Revisor, der Sachverhalt ist solcher...? Er rief die Liste auf, die er in der Musikkonsole gespeichert hatte, aber da hatte er es jaschon. Er drückte auf Start, Leporellos volltönender Bariton drang aus den Stereo-Lautsprechern:
Madamina, il catalogo è questo...
Die Ampel schaltete auf Grün, der BMW schnurrte davon, dass die Schlafmützen nur so glotzten, so – genau so! – hatte er es mit den Revisoren gemacht, alle beide hatte er sie gefickt, nach dem Trick mit dem Ehrenwort war ihnen die Luft weggeblieben.
In Italia seicento e quaranta
In Allmagna duecento e trentuna...
Gewiss, sehr unglücklich das alles. Duecento mille Euro in eben dem einen winzigen Augenblick unter die Russen gefallen, in dem sie noch nicht im Tresor verstaut waren, sehr unglücklich, sehr bedauerlich, gewiss doch, zumal die Dame, deren Namen wir nicht nennen wollen, ihre Geschichte vielleicht doch lieber nicht den Ermittlungsbehörden mitteilen wird, vielleicht wirklich und ganz bestimmt lieber Duecento mille verliert, bevor das Finanzamt davon erfährt, ja mehr noch: der man es andererseits gar nicht erklären könnte, mit Engelszungen nicht, warum ausgerechnet ihr Geld verschont geblieben sein soll, richtig enttäuscht wäre sie! Und da es nun einmal leider diesen bedauerlichen Zwischenfall gegeben hat – was liegt da näher, als neue Rekruten zu bringen, um den kleinen Verlust wettzumachen?
Cento in Francia, en Turchia novantuna...
Wäre das nicht ein Abend, samtschwarz und nachtkühl, mit 210 über die Autobahn ins Casino zu fahren? Nein. Ja. Nein. Nicht zu viel auf einmal. Dies war ein guter Tag für Manfred Czybilla, zweihunderttausend Euro für die eigene ganz private Kriegskasse einkassiert, mehr wollte er heute nicht, der Klugegenießt und weiß sich zu bescheiden... Die Einfahrt zum Apartmenthaus, das Tor der Garage schwang hoch, exakt und mit hauchdünnem Abstand schwebte der BMW darunter
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