Uferwald
nicht weiß«, antwortete Keull, »warum soll ich’s dann wissen?«
»Sie haben ihn auch nicht in der Zeit gesehen, als Sie Ihr Atelier in dieser Autowerkstatt hatten?«
»Da haben mich nur die Leute interessiert, die zu mir gekommen sind«, sagte Keull. »Wenig genug waren es. Und der da« – er deutete auf Dannecker – »war ganz bestimmt nicht dabei.«
Desarts blickte zu Dannecker. »Was ist mit der Stimme? Haben Sie die schon einmal gehört?«
»Einen Augenblick.« Petri hob protestierend eine Hand. »Das geht zu weit. Mein Mandant hat seinen guten Willen gezeigt, aber bevor wir hier länger mitspielen, müssen wir wissen, was für eine Inszenierung das ist. Wem, bitte, wird was vorgeworfen?«
»Wir ermitteln in einem Verbrechen der vorsätzlichen Tötung«, antwortete Desarts. »Noch gibt es keinen Beschuldigten.« Er wandte sich wieder Dannecker zu. »Nun?«
»Ich möchte jetzt keine weiteren Aussagen machen«, antwortete der. »Benötigen Sie mich noch?«
Desarts begleitete Dannecker zur Tür und sah ihm nach, als er den Flur hinunterging.
»Haben Sie bitte noch etwas Geduld«, sagte er zu jemand, der – für die anderen im Zimmer unsichtbar – neben der Tür stand oder saß.
A m Waldrand oberhalb des Tobels stand ein Kastanienbaum, und im Gras auf dem Boden um sie herum lagen unzählige der braunen Früchte mit dem hellen Nabelfleck, und das Braun glänzte wie frisch poliert. Harald Treutlein konnte nicht widerstehen,er musste sich bücken und die Kastanien einsammeln, es war wie eine Einladung, die man nicht zurückweisen darf, schon als Kind hatte er das so empfunden. Eigentlich hätte er das am Nachmittag tun wollen, mit Johannes und Mona gemeinsam, aber man durfte die Aufmerksamkeit der Kinder nicht überfordern, heute ging das nicht mehr, das sagte auch Isolde.
Am Nachmittag würden sie basteln. Kiefernzapfen- und Kastanienmännchen, eine ganze Familie, und vielleicht ein Häuschen dazu, im Wald waren einige Kiefern gefällt worden, und er hatte nicht nur die Zapfen eingesammelt, sondern auch die Kiefernrinde, das war überhaupt der beste Werk- und Bastelstoff, den der Wald hergab. Wenn Johannes mitmachte, würden sie Schiffchen daraus schnitzen, mit Segeln aus Papier oder – doch besser – aus Kastanien- und Ahornblättern, und damit an die Donau gehen und die Schiffchen schwimmen lassen.
Das ist, meine Damen und Herren, nun doch etwas anderes, als die Kinder vor der Glotze abzustellen, dabei geht es ganz einfach, Sie müssen nicht einmal besonders geschickt mit den Händen sein, Phantasie, spielerische Kreativität sind gefordert, nicht technische Perfektion...
Wirklich, warum machte er kein Referat daraus für den Elternabend des Kindergartens? Oder eine Broschüre, ein kleines Buch, Bastelanleitungen mit Fotografien, Johannes und Mona bauen ein Schiff – das wäre doch schon mal ein griffiger Titel, im Selbstverlag könnte er das machen und vormittags, wenn er frei hatte, zu den Buchhandlungen gehen, alles ist möglich, man muss es nur anfangen und in die Hand nehmen, bei der Bürgerinitiative war das genauso gewesen.
Beschwingt schlug er den Weg ein, der durch den Wald zum Eschental hinunterführte. Früher war er oft hier gewesen, nicht selten auch mit Tilman, ganz früher hatten sie Karl May nachgespielt oder einfach das Anschleichen: Wer sieht den anderenzuerst... Und irgendwann einmal war Tilman überhaupt nicht mehr zu finden gewesen, er war nämlich einfach nach Hause gegangen, schon damals hatte er solche Tricks auf Lager gehabt, um einen blöd aussehen zu lassen.
Der Pfad schlängelte sich durch das Gehölz, an einer Wegkehre entdeckte Treutlein ein verlassenes Vogelnest, das der Wind von den Zweigen geweht hatte, er bückte sich und hob es auf. Der Pfad verließ den Tobel und führte hinauf auf die Wiese, auf der er und die Freunde sich am Freitag zur Demo getroffen hatten. Am Waldrand blieb er stehen. Jetzt liefen dort Leute in Gummistiefeln herum und vermaßen etwas, Geometer oder Bauingenieure oder was? Er runzelte die Stirn. Niemand hatte hier etwas zu vermessen. Das Projekt des Obdachlosenheims war abgeblasen, von der Tagesordnung, der Oberbürgermeister selbst hatte so entschieden, er wusste es von Schleicher.
»Das Heim Zuflucht wird nicht bei euch gebaut«, hatte Schleicher ihm am Telefon gesagt, »wenn überhaupt, findet das irgendwo anders statt, in einem Gewerbegebiet oder vielleicht ganz außerhalb, im Landkreis, das ist definitiv, aber behalt
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