Uferwald
mit einem prüfenden Blick musterte. Eilends verließ er das Reihenhaus, bückte sich aber doch nach einer der Scherben, auf der noch Reste des Etiketts klebten.
Es war keine Witwe gewesen, sondern ein Krimsekt. 8,95 Euro, schätzte er. Er ging die Gasse weiter, links war ein Kinderspielplatz, im Sandkasten lagen Bierdosen, und an der Schaukel war die eine Kette abgerissen.
A n einem 1. Dezember hatte Tilman das Heim Zuflucht zum ersten Mal besucht, Kuttler las es im Tagebuch nach, draußen im Wagen, als er vor dem zweistöckigen Behelfsbau geparkt hatte:
...im Aufenthaltsraum abgetretenes Linoleum, es riecht nach Desinfektionsmitteln und schlechtem Essen...
Was, zum Teufel, hatte Tilman erwartet? Ein Vier-Sterne-Hotel? Ernüchtert klappte Kuttler den Band wieder zu und stieg aus. Er war schon öfter hier gewesen, die Klientel des Heimes Zuflucht ist manchmal auch die der Polizei, aber diesmal überkam ihn fast ein Herzklopfen, so als sei er Tilman, der trotz desvor Jahren gegen ihn verhängten Hausverbots hier einzudringen versuchte.
Die gelbe Fassade war von Rissen durchzogen und eine Scheibe an der Eingangstür durch eine Plastikplane ersetzt. Er musste klingeln, es dauerte, schließlich machte ihm ein kahlköpfiges Männchen auf, man kannte sich.
»Oh«, sagte Frieder Jakubeit – denn so hieß das Männchen – und machte einen Diener, »hoher Besuch, bitte einzutreten, der Herr Oberkommissar, was führen den Herrn in unsere ärmliche, aber baufällige Hütte?«
»Besten Dank«, sagte Kuttler, »man logiert nicht mehr im Alten Friedhof?«
»Ach!«, klagte Jakubeit und tastete mit seiner Hand nach der Hüfte, »die Knochen und der Herr Ordnungsamt wollen es nicht mehr leiden.«
»Ja, so«, meinte Kuttler anteilnehmend. »Meister Brauchle geruhen in seinem Büro zu sein?«
»Bitte mir zu folgen«, antwortete Jakubeit und ging Kuttler voran, an der offenen Tür des Aufenthaltsraums vorbei. Kuttler nickte den Männern zu, die dort im Zigarettenqualm hockten und neugierig oder auch misstrauisch zu ihm herschauten. Jakubeit klopfte an eine weitere Tür, öffnete sie dann und ließ Kuttler in ein Büro eintreten, das mit einem Schreibtisch, einigen Stahlschränken und einer kümmerlichen Liege möbliert war. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann mit zurückgekämmtem schütterem Haar, der Kuttler durch eine Hornbrille entgegen- starrte: der Heimleiter Brauchle. Jakubeit war verschwunden.
»Der Herr Kuttler, nicht wahr?«, sagte Brauchle. »Das sieht nach Ärger aus, und den können wir jetzt noch weniger brauchen als sonst.« Er stand auf, Kuttler und er tauschten einen Händedruck.
»Ärger kann man nie brauchen«, antwortete Kuttler. »Und ich will Ihnen auch keinen machen. Aber warum können Sie den jetzt noch weniger brauchen als sonst?«
Brauchle machte eine Handbewegung, als wolle er dem Besuchersein Büro zeigen. »Sie sehen doch selbst, wie baufällig das alles ist. Wir sollen ausziehen, weil hier ein Zubringer zur Umgehungsstraße vorbeigeführt wird. Aber sagen Sie mir, wohin unsereins gehen soll?« Er schob seinen Kopf vor und starrte Kuttler ins Gesicht. »Sagen Sie mir, wo das Heim Zuflucht hingehen kann, ohne dass es einen Volksaufstand gibt oder wenigstens eine Bürgerinitiative...«
Er setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch, und auch Kuttler nahm auf dem hölzernen Besucherstuhl Platz.
»Dabei wissen Sie doch selbst«, fuhr Brauchle fort, »dass unsere Männer harmlose alte Teufel sind, wenn es hochkommt, klauen sie mal eine Flasche Schnaps und schaffen es keine zwanzig Meter weit, wenn ihnen die Verkäuferin nachläuft. Aber hören Sie sich nur einmal um, gehen Sie doch in die Siedlung Eschental, dort ist seit zwanzig Jahren ein Neubau für uns ausgewiesen, jeder hat das gewusst, dass wir dort hingehen wollen. Ja, gehen Sie hin und fragen Sie die Leute dort, und die Leute werden Ihnen sagen, dass die Frauen und die Kinder ihres Lebens nicht mehr sicher seien, wenn wir kommen. Irgendwann werde ich meine Männer zusammenrufen, und wir gehen ins Münster und fordern Kirchenasyl. Wenn wir nicht Verfolgte sind, wer ist es dann?« Er schwieg, als warte er auf den Nachhall, den seine Worte doch auslösen müssten.
»Aber deswegen sind Sie nicht gekommen«, fuhr er schließlich fort, »was also kann ich für Sie tun?«
»Rolf Kaminski«, antwortete Kuttler. »Ich hätte ihn gern gesprochen.«
Brauchle blickte hoch. »Kaminski, sagen Sie? Moment. Ein Kaminski wohnt nicht bei
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