Uferwald
uns.« Er legte die Hand an die Nase, als müsse er nachdenken.
»Er ist querschnittgelähmt«, sagte Kuttler, »auf den Rollstuhl angewiesen. Es kann sein, dass man...«
»Ach!«, entfuhr es Brauchle, »Rolf Kaminski, natürlich. Aber wenn Sie ihn sprechen wollen, müssen Sie sich in die Stuttgarter Straße bemühen.«
An der Stuttgarter Straße liegt der Hauptfriedhof. Kuttler mochte solche Scherze nicht. Er beschloss, sich das auch anmerken zu lassen.
»Wann ist er gestorben?«, fragte er. »Und woran?«
»Ho ho! Langsam mit die alten Gäule!«, antwortete Brauchle. »Woran wird er gestorben sein? Das war ein armer kranker Teufel, wie die anderen hier auch, woran stirbt so jemand? An der Krankheit, an Spätfolgen vom Unfall, an der kaputten Leber oder an den kaputten Nieren, das müssten Sie doch alles wissen!« Er drehte sich zu dem geöffneten Rollschrank um, der hinter ihm stand, fuhr mit dem Finger suchend über die Reihe der Aktenordner und holte schließlich einen heraus, den er aufschlug. »Hier!« Er begann zu lesen. »Kaminski, Rolf, geboren 1951 in Sennelager, Lehre als Möbeltischler, verheiratet, 1980 arbeitslos, 1982 Scheidung, seither ohne festen Wohnsitz, 1996 nach Unfall querschnittgelähmt, nach Krankenhaus und Rehabilitation kam er im Januar 1997 zu uns, November 1999 Lungenentzündung und Exitus.«
»Wie hat er sich die Lungenentzündung zugezogen? Ich dachte, hier wäre er auch pflegerisch betreut worden?«
»Wollen Sie mir was anhängen?« Brauchle blickte empört. »Natürlich wurde er eins a betreut, was glauben Sie denn! Aber es war November, ich erinnere mich noch gut, eigentlich ein schöner Tag, er wollte mit dem Rollstuhl draußen sein, natürlich muss man bei Querschnittgelähmten aufpassen, dass sie sich nicht unterkühlen, die spüren die Kälte nicht, wissen Sie! Aber irgendwie hat sich die Wolldecke gelöst, oder sie ist ihm runtergefallen...«
»Er trug keine Thermo-Wäsche?«
»Also, das weiß ich jetzt wirklich nicht mehr, ich weiß auch gar nicht, ob das im Pflegesatz enthalten gewesen wäre, in den Richtlinien ist das ganz sicher nicht vorgesehen.«
Kuttler betrachtete den Mann hinter dem Schreibtisch. Pflegesatz. Richtlinien. Irgendwie ist die Decke heruntergefallen. Ein Beamter eben. Nein, freie Wohlfahrtspflege, also fest angestellt,aber kein Beamter. Und was soll das überhaupt heißen: ein Beamter eben? Was bist denn du?
»Was wissen Sie über den Unfall?«
»Werd ich dabei gewesen sein?« Brauchle blickte empört. »Sie schlagen hier einen Ton an... Der Unfall war auf dem Münsterplatz, nach dem Wochenmarkt, Kaminski wird betrunken gewesen sein, ich kenn doch meine Pappenheimer, und ist unter den Lieferwagen von einem der Händler geraten. Was schauen Sie so?«
»Es gibt manchmal merkwürdige Unfälle«, sagte Kuttler. »Und je mehr einer nachfragt, desto merkwürdiger werden sie. Hat Kaminski ein Schmerzensgeld bekommen?«
Brauchle schwieg. Bedächtig klappte er den Aktenordner wieder zu. »Sollten Sie dieses Gespräch nicht besser mit unserem Justiziar führen?« Der Blick kehrte zu Kuttler zurück, jetzt nicht mehr empört, sondern ausdruckslos und verschlossen. »Er war, wie ich gerade gesehen habe, auch Kaminskis Betreuer und hat ihn juristisch vertreten.«
Ein Rechtsanwalt also, dachte Kuttler, das wird jetzt bitte nicht... »Und wer ist dieser Justiziar?«
»Das ist der Herr Rechtsanwalt Dannecker, im Hafenbad.«
E s war kurz vor Mittag, und im Café »Wichtig« gab es noch freie Plätze am Fenster. Luzie war mit Matthes verabredet, aber sie war noch etwas zu früh. Das Gespräch mit Pfarrer Rübsam hatte nicht allzu viel Zeit in Anspruch genommen, sie hatte sogar den Eindruck, Rübsam sei fast erleichtert gewesen, als sie sich verabschiedete. Vermutlich steckte auch er die Geschichte so leicht nicht weg, vielleicht wäre die alte Frau Gossler eben doch ansprechbar gewesen, vielleicht hätte sich auch in der Kirchengemeinde jemand darum kümmern müssen und hatte keine Lust und keine Zeit dazu gehabt, warum sollte es in der Kirche nicht auch Mitarbeiter geben wie die Sachbearbeiterin Fudel bei den Heimstätten?
Das Tagblatt hatte sie schon beim Frühstück überflogen, so suchte sie sich eine der Zeitschriften aus, die im »Wichtig« auslagen, keine Mode, kein Lifestyle, schließlich fand sie ein Magazin für Sporttaucher, warum sollte sie nicht irgendwann in diesem Winter auf die Malediven fliegen, vielleicht im Februar, wenn der
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