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Uferwald

Titel: Uferwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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Geschäftsbericht erstellt war?
    Plötzlich sah sie auf, am Tisch stand Matthes, sie hatte ihn nicht kommen sehen oder hören, aber das war schon immer so gewesen, weswegen sonst hieß er Schleicher? Sie wies auf den freien Stuhl am Tisch und versuchte erst gar kein Lächeln, bei jemandem, den man schon aus der Grundschule kannte, musste das nicht sein! Damals hatte er noch diese widerspenstigen roten Haare gehabt und die milchweiße Haut mit den Sommersprossen, das Haar war jetzt zurückgekämmt und legte Geheimratsecken frei und war nicht mehr aufrührerisch rot, sondern fast farblos, so dass es sich nicht einmal mit der dezenten roten Krawatte biss, die er zu einer blau-grauen Kombination trug. Irgendwo hatte sie gelesen, Matthes wolle in den Landtag und habe sich dieserhalb mit dem jetzigen Landtagsabgeordneten verbündet, der nämlich ein Bundestagsmandat anstrebe, vorausgesetzt, es gelinge ihm, die derzeitige Mandatsträgerin weg- zubeißen. Natürlich hatte sie es nicht irgendwo, sondern im Tagblatt gelesen, wer sonst würde so etwas für wichtig halten.
    »Stimmt das, was das ›Tagblatt‹ schreibt?«
    »Natürlich nicht«, antwortete Schleicher. »Da hat jemand einen Versuchsballon steigen lassen.«
    Sie sah ihn nur an.
    »Na ja«, räumte er ein, »es ist ein mögliches Szenario, aber ich halte mich da ganz bedeckt. Aber sag – was ist mit der Beerdigung?«
    »Gibt’s nicht. Sie wird verbrannt. Die Trauerfeier ist morgen, der Pfarrer von der Pauluskirche hält eine Rede oder predigt oder was auch immer. Ich wäre übrigens dankbar, wenn du kämst. Eigentlich hatte sich die alte Frau Gossler alles Gesums verbeten, und ich habe den Pfarrer erst rumgekriegt, als ichihm sagte, wir – also die Freunde von Tilman – würden darum bitten...«
    Matthes schaute sie zweifelnd an. »Die Freunde von Tilman, hast du gesagt?«
    Schleicher!, dachte Luzie, und spürte eine leise Gereiztheit in sich hochsteigen. »Dass er dich nicht leiden konnte und dich für einen Karrieristen hielt, habe ich dem Pfarrer ja nicht unbedingt auf die Nase binden müssen.« Das war jetzt fast eine Spur zu scharf.
    »Sicher«, antwortete Matthes. »Aber sag mir – wen von uns hat er denn leiden können?«
    Das hättest du wohl gerne so, dachte Luzie: dass da nämlich gar nichts gewesen wäre, aber sie wurde einer Antwort enthoben, denn in diesem Augenblick hatte ein großer stämmiger Kerl das Café betreten und blickte sich suchend um. Er trug einen Overall und einen schwarzen Schlapphut dazu, der auf absurde Weise unpassend gewesen wäre, hätte der Mann nicht eine Art unerschütterliches Selbstvertrauen ausgestrahlt. Er blickte zu ihr herüber und kam auf den Tisch zu. Was will der von mir?, dachte Luzie, aber da war Schleicher auch schon aufgestanden, hatte den Neuankömmling mit Handschlag begrüßt und stellte ihn vor:
    »Das ist Alexander Keull, er ist Bildhauer und einer der Stars unserer oberschwäbischen Sezession, die gerade im Kornhaus vorbereitet wird.«
    Einer der Stars! Was muss Schleicher einen solchen Unsinn reden, ging es Luzie durch den Kopf, der Kerl scheuert ihm gleich eine, aber das tat er dann nicht, sondern Keull und Luzie tauschten einen Händedruck, sie registrierte, dass er dunkle Augen hatte, die sie sehr direkt ansahen, dann setzte er sich, nahm seinen Hut ab, unter dem dichtes schwarzes, lockiges Haar zum Vorschein kam, das von einzelnen grauen Strähnen durchzogen war.
    »Sag einfach Sascha zu mir«, sagte er, und erst später fiel ihr auf, dass er sie ganz ungefragt geduzt hatte.
     
    I m Neuen Bau herrschte an diesem Nachmittag eine merkwürdige, zwischen unterdrückter Heiterkeit und besonderer Vorsicht oszillierende Stimmung. Kuttler war es schon auf dem Hof aufgefallen, als ihm Orrie entgegengekommen war und kurz mit dem Daumen nach unten gezeigt und gefeixt hatte. Oben in ihrem gemeinsamen Büro saß Tamar Wegenast bereits am Schreibtisch, schien allerdings weder heiter noch irgendwie besorgt, sondern ganz einfach schlechter Laune. Er schloss behutsam die Tür und hängte seinen Trenchcoat auf.
     
    »Schöner Tag heute«, sagte Kuttler und drehte seinen Bürostuhl auf die richtige Höhe.
    »Deine Schnepfe hat schon wieder angerufen. Wegen eines Kühlschranks.«
    »Ich wusste doch, dass diesem Tag noch etwas fehlt«, sagte Kuttler und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
    »Kannst du dieses Scheißding nicht endlich wegräumen? Diese Anrufe nerven mich.«
    »Es ist Kerstins Scheißding, sie soll

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