Uferwald
Gespräch sofort abzubrechen. Ihr, die ihr im Heim Zuflucht eintretet, lasst alle Hoffnung fahren, ging es ihr durch den Kopf. Ihr seid aufgehoben, und was aufgehoben ist, macht keine Unordnung mehr, keinen Ärger, der Aufgehobene ist seiner Sorgen enthoben, um nichts mehr muss er sich kümmern, sein Leben ist jetzt in den fürsorglichen Händen des Heimleiters Brauchle und des Doktors Handloser und des Justiziars Dannecker...
Das führt zu weit, dachte Tamar. »Kaminski hatte im Jahr vor seinem Tod Kontakt mit einem jungen Studenten. Die beiden haben Schach gespielt, vielleicht auch über Kaminskis Prozess gesprochen. Tilman Gossler hieß der junge Mann. Sagt Ihnen der Name etwas?«
Handlosers Gesicht war wieder rund und bleich und faltenlos. »Ich glaube mich dunkel zu erinnern, dass es da einmal Ärger mit einem Studenten gegeben hat. Der junge Mann hatden Heimbewohnern allerhand Flausen in den Kopf gesetzt, Brauchle hat den Studenten schließlich rausgeschmissen. Ob dieser junge Mann auch mit Kaminski in Kontakt war, weiß ich natürlich nicht mehr, ich hab das ja nur am Rande mitgekriegt.« Er zuckte mit den Schultern. »Brauchle ist ein wenig ein Choleriker. Aber er hat’s ja wirklich nicht leicht. Er muss diesen Laden schmeißen, muss diese Leute nicht bloß verköstigen und dafür sorgen, dass sie sich nicht die vom Alkohol dementen Köpfe einschlagen, sondern er muss sie irgendwie auch beschäftigen, aber glauben Sie bloß nicht, dass damit nennenswert Geld zu verdienen wäre. Heutzutage schon gleich gar nicht. Und dem Landeswohlfahrtsverband ist jeder Cent zu viel, den er für diese Klientel ausgeben muss.«
Tamar sah sich um. Nennenswert Geld? Das wurde auch in dieser Praxis nicht verdient. Vermutlich erwartete Dr. Handloser, dass sie in ihm den Menschenfreund erkannte, den man seiner Physiognomie vielleicht nicht unbedingt ansah. Aber Tamar hatte es sich abgewöhnt, das Auftreten oder Vorhandensein von Menschenfreundlichkeit überhaupt in Betracht zu ziehen, und sie wäre es zufrieden gewesen, in dem Arzt jemanden zu sehen, der ganz einfach seine Arbeit tat. Was sprach dagegen? Er hätte nicht davon reden sollen, dachte sie, dass die Leute in diesem Heim aufgehoben seien.
»Sie irren übrigens«, sagte sie unvermittelt. »Selbstverständlich hat Kaminski Anspruch auf ein angemessenes Schmerzensgeld gehabt. Wir finden es ein wenig irritierend, dass er das vor seinem Tod offenbar nicht erhalten hat. Irgendwer muss dieses Geld doch – wie soll ich sagen? – aufgehoben haben.«
Dr. Handlosers Gesicht blieb unbewegt. »Wenn Sie keine konkreten Fragen mehr haben – draußen warten meine Patienten...«
Tamar stand auf und bedankte sich für die Auskünfte, die sie nicht erhalten hatte.
Die Fensterläden waren geöffnet, und das Licht des Herbstnachmittags ließ die blaue Sitzgarnitur unter ihrer Staubschicht verblasst und ärmlich aussehen. Erst jetzt bemerkte Kuttler die Spinnweben, die sich von der Seitenkante des Sekretärs zur Wand zogen. Er zog die Schublade auf, von der er wusste, dass sich darin die Fotoalben befanden, und nahm den Stapel heraus.
Was tat er da? Kuttler wusste es selbst nicht so genau. Er hatte aus Tilmans Zimmer einige Briefe und Arbeitshefte eingesteckt, die für eine graphologische Expertise ausreichen müssten, sollte später irgendjemand bezweifeln, dass Tilmans Tagebuch auch wirklich von diesem geschrieben worden war. Keine weiteren Hinweise hatte er auf das Heim Zuflucht gefunden und auch keine Hinweise auf Solveig – keinen Brief, keine Karte, kein Foto.
Er zögerte einen Augenblick, bevor er sich auf eines der blauen Sesselchen setzte und sich noch einmal – und diesmal genauer – die Fotografien ansah, die in den Jahren vor Tilmans Tod aufgenommen worden waren.
Der Polizeibeamte Markus Kuttler hätte sich selbst – wäre er danach gefragt worden – als eher nüchternen Menschen bezeichnet und als jemand, der sehr wenig oder gar nicht abergläubisch sei. Der Gedanke, dass man im Gesicht eines Menschen etwas von dessen Schicksal ablesen könne, wäre ihm entweder banal erschienen – als mache sich jemand damit wichtig, dass er die weiteren Aussichten eines Alkoholikers an dessen Nase ablesen werde – oder als esoterischer Unfug.
Trotzdem fiel ihn beim Betrachten der Fotos, die so alt gar nicht waren, zehn Jahre vielleicht, eine Erinnerung an. Plötzlich hatte er den Geruch von Bohnerwachs und Möbelpolitur und frisch gewaschenen Vorhängen in der Nase, den
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