Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Uferwald

Titel: Uferwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
Vom Netzwerk:
Dr. Franz-Xaver Handloser war ein Mann weit jenseits der fünfzig, mit einem bleichen Mondgesicht, und hatte seine letzten schwarzen Haarsträhnen so über seinen Schädel gelegt, dass er nicht ganz und gar kahlköpfig aussah. Es war Sprechstunde, aber Tamar hatte nur kurz warten müssen, Handloser schob sie, wie er sich ausdrückte, zwischen zwei Patienten ein.
    »Ja, doch«, sagte er, »Rolli-Rolf, ich erinnere mich gut, er hatte es faustdick hinter den Ohren.« Er hatte sich in seinem Drehstuhl zurückgelehnt und betrachtete Tamar mit einem prüfenden Blick. »Darf ich fragen, welches kriminalpolizeiliche Interesse an dem Fall besteht?«
    »Wir ermitteln im Zusammenhang mit einem anderen Fall«, antwortete Tamar ausweichend. »Kaminski wäre möglicherweise ein wichtiger Zeuge gewesen. Sein Tod wirft für uns die Frage auf, ob er...« – sie suchte nach einer Formulierung, die nicht zu viel verriet – »ob er zu diesem Zeitpunkt vermeidbar gewesen wäre.«
    Dr. Handloser lachte meckernd. »Dass der Tod unvermeidbar ist, Werteste, ist die einzige Gewissheit, die wir auf dieser Welt haben. Kaminski starb an einer Lungenentzündung, die insofern unvermeidbar war, als er sich eine Unterkühlung zugezogen hatte. Die hatte er sich zugezogen, weil er zu lange mit seinem Rollstuhl draußen geblieben war, Querschnittgelähmtesind in dieser Hinsicht besonders gefährdet, weil bei ihnen die Wahrnehmung von Kälte und Wärme beeinträchtigt ist. Hätte er sich nicht unterkühlt, hätte er keine Lungenentzündung bekommen, und wäre seine gesundheitliche Verfassung insgesamt besser gewesen, hätte er die Lungenentzündung überstanden. Sie sehen, der Tod ist immer auch vermeidbar, wenigstens für eine kurze Weile. Wenn Sie freilich exaktere Auskünfte haben wollen, muss ich Sie bitten, sich mit dem Universitätsklinikum in Verbindung zu setzen. Dort ist er gestorben, und dort ist auch der Totenschein ausgestellt worden.«
    »Wussten die Mitarbeiter im Heim Zuflucht von dieser besonderen Gefährdung, der Kaminski ausgesetzt war?«
    Das Mondgesicht verdüsterte sich. »Da Sie mich das fragen, wollen Sie offenbar wissen, ob ich meine ärztlichen Pflichten verletzt habe. Selbstverständlich habe ich die Heimleitung darauf aufmerksam gemacht.«
    »Und als Kaminski erkrankte – haben Sie da nachgefragt, wie es dazu gekommen ist?«
    »Sind Sie sicher, dass das meine Aufgabe gewesen wäre?« Handloser richtete sich in seinem Drehstuhl auf, die Stirn in Falten gelegt. »Aber bitte. Natürlich habe ich fürchterlichen Krach geschlagen. Nur – der eine Pfleger war ein Ukrainer und der andere ein Tamile, und nun stellen Sie sich einmal vor, was herauskommt, wenn der Morgenschicht auf Deutsch mitgeteilt wird, was sie ukrainisch verstehen und was sie der Mittagschicht ins Tamilische übersetzen soll. Vielleicht übertreibe ich. Aber so ungefähr sind die Probleme, wenn Sie mit Leuten umgehen müssen, die eine Arbeit machen, die sonst niemand machen will.«
    »Wie war Ihr Verhältnis zu Kaminski? Haben Sie mit ihm über seine Situation reden können? Über das, was ihn bewegt hat?«
    »Werteste!« Die Falten in dem Mondgesicht glätteten sich und machten einem leidenden, fast schmerzlichen Ausdruck Platz. »Über die Situation der Bewohner des Heimes Zuflucht braucht man mit ihnen nicht zu reden, denn dass sie dort sind,sagt über ihre Situation alles, was zu sagen ist, sie sind aufgehoben, und das ist das Beste, was ihnen das Leben noch zu bieten hat. Und nun fragen Sie, was Rolli-Rolf bewegt hat! Ja, nun, er wollte zu seinem Geld kommen, wahrscheinlich hatte er ganz abenteuerliche Vorstellungen davon. Aber dass unsere Gerichte nicht unbedingt bereit sind, Obdachlose zu Millionären zu machen, nur weil diese von einem Auto angefahren worden sind – also, das liegt eigentlich auf der Hand, vermutlich fürchten die Juristen, man würde sich sonst vor querschnittgelähmten Stadtstreichern gar nicht mehr retten können. Zum Glück bin ich kein Jurist.«
    »Aber Sie haben mit Kaminski über seinen Prozess gesprochen?«
    »Das ist zu viel gesagt. Er hat mich wohl einmal darauf angesprochen, ganz am Anfang, als der Hergang seines Unfalls noch gar nicht so richtig geklärt war, und ich habe ihm gesagt, dass er das jetzt einfach seinem Anwalt überlassen soll, soviel ich mich erinnere, war das der Herr Dannecker, der ja überhaupt das Heim und seine Bewohner juristisch betreut.«
    Plötzlich überkam Tamar das heftige Verlangen, dieses

Weitere Kostenlose Bücher