Uferwald
diesem Trägerverein saßen damals und sitzen heute noch Persönlichkeiten, die der Justiz in dieser Stadt Ansehen und moralisches Gewicht gegeben haben. Das sind Persönlichkeiten, die nehmen nicht irgendeinen... Was ich damals nicht bedacht habe – ich war damit festgelegt. Festgelegt und abgestempelt als der Anwalt, zu dem man nur geht, wenn man obdachlos ist und ganz unten.«
»Sie sind also ein Opfer Ihres eigenen guten Herzens geworden«, sagte Tamar und sah, wie sich eine leichte Röte über Danneckers Gesicht zog. Jetzt!, dachte sie. »Warum haben Sie uns eigentlich gestern nicht gesagt, dass Solveig Wintergerst Ihre Geliebte gewesen ist?«
Dannecker saß da, scheinbar völlig ungerührt. Nur die Finger seiner rechten Hand schlossen sich zu einer Faust, dann öffneten sie sich wieder. Die Röte war aus seinem Gesicht verschwunden. Er schwieg.
»Warum?«
»Ich weiß nicht, ob ich mich dazu äußern soll.« Seine Stimme klang ruhig und bedächtig.
Tamar machte einen neuen Anlauf. »Wissen Sie denn noch, wann Sie Solveig nach Ulm geholt haben?«
»Ich habe sie nicht hierher geholt.« Die Stimme war unverändert. »Ich habe mit ihrem Vater zusammen studiert, wir waren Bundesbrüder und auch später noch in freundschaftlichem Kontakt. Vielleicht können Sie das nicht verstehen, aber ich habe diesen Kontakt auch dann nicht abreißen lassen, als die bedauerlichen Verstrickungen bekannt wurden, in die er geraten war. Sie wissen darüber Bescheid?«
»Sie wollten die Verteidigung übernehmen?«, fragte Tamar zurück.
»Nein, sicher nicht«, wehrte Dannecker ab. »Für diese besondere Art von Transaktionen, um die es in seinem Verfahren ging, fehlt mir das Spezialwissen, und ich bin auch kein Anwalt, der gerne im Rampenlicht agiert... nein, ich wollte nur wissen, ob ich sonst in irgendeiner Weise behilflich sein könnte, und da hat sich eben ergeben, dass Solveig um jeden Preis von Freiburg weg wollte.«
»Und da nahmen Sie Solveig zu sich?«
Abweisend schüttelte Dannecker den Kopf. »Ich bin ein verheirateter Mann.«
Ach ja, dachte Tamar. Es gibt am Sozialgericht eine Richterin Dannecker, blass, brünett, bebrillt. Elisabeth? Dorothea? Jedenfalls wäre sie nicht entzückt gewesen, ganz sicher nicht.
»Und deswegen haben Sie Solveig die Wohnung in Thalfingen gegeben?«
Kurzes Zögern, Dannecker hob die rechte Hand und ließ sie wieder fallen. »Das hatte sich damals so angeboten.«
»Und wann wurde sie Ihre Geliebte?«
Dannecker sah sie mit einem Blick an, der weder zornig noch empört war, sondern eher resigniert und müde. »Warum müssen Sie das so fragen? In diesem Ton?«
»Wann?«
Dannecker starrte auf den Tisch. »Solveig war ganz neu hier«, sagte er schließlich, »sie kannte niemand in Ulm, und in Thalfingen in einer fast leeren Wohnung zu hocken, das ist ja auch nicht so lustig. Und weil ich sie ja hergeholt hatte, dachte ich, ich muss mich auch ein bisschen um sie kümmern... ach Unsinn.« Er blickte auf und sah Tamar ins Gesicht. »Vielleicht können Sie das nicht verstehen. Es ist einfach passiert.«
»Schon gut«, sagte Armbruster. »Den Rest können wir uns denken, Sie sind nicht der Erste, dem so etwas passiert, und nicht der Letzte. Aber irgendwann muss man die Sachen dann auch wieder aufräumen. Finden Sie nicht, dass wir jetzt ein wenig Ordnung in Ihre Zahlen bringen sollten?«
Dannecker sah ihn an. »Ja«, antwortete er. »Sicher.«
D er Baudezernent war ein auffällig großer schlanker Mann und hatte silbergraues gelocktes Haar, das zumindest einer der jüngeren Gemeinderätinnen schon einmal zum Verhängnis geworden war, wie Matthes und mit ihm jeder andere wusste, der ein paar Dinge mehr weiß, als in der Zeitung steht. Im Augenblick saß der Dezernent am Besprechungstisch des Oberbürgermeisters und spielte – eher ärgerlich als nervös – mit einer metallisch glänzenden Klammer, wie er sie sonst dazu benutzte, um seine Hosenbeine festzustecken, wenn er mit dem Fahrrad unterwegs war, und das war eigentlich bei nahezu jedem Wetter der Fall.
»Natürlich können diese Leute nicht entscheiden, wer bei ihnen in der Nachbarschaft einziehen darf und wer nicht«, sagte er und sah lieber nicht zum Oberbürgermeister hin, dessen Augen schon wieder halb geschlossen waren wie die eines alten schläfrigen wohlgenährten Katers. »Aber es ist leider auch so, dass die Leute in einem Punkt Recht haben. Leider. Wenn der soziale Problemdruck in einem Wohngebiet zu groß wird, dann
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