Uferwald
sich ab und zog vorsichtig die Tür des Wintergartens hinter sich zu.
N ehmen Sie doch Platz«, sagte Englin und wies auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch. In seinem Zimmer war es schon fast wieder dunkel, die Schreibtischlampe war eingeschaltet, und ihr Licht fiel auf das »Tagblatt«, bei dem die erste Lokalseite aufgeschlagen war. Tamar setzte sich.
Englins Hand deutete auf die Zeitung, mit einer Bewegung, von der nicht recht klar war, ob er dieses Papier da nicht eigentlich viel lieber zusammenknüllen würde. »Dieser... dieserDreck«, sagte er, und plötzlich sah Tamar, dass sein Augenlid wieder zuckte.
Es gibt doch Dinge, die bleiben. Fast war es ein tröstlicher Gedanke.
»Wir können jetzt nicht anders«, sagte Englin, »wir müssen den Vorgang disziplinarrechtlich untersuchen. Schon um sicherzugehen, dass nichts, absolut nichts am Kollegen Kuttler hängen bleibt.«
Tamar schwieg vorsichtshalber. Wenn es etwas zu klären gibt, soll man es klären. Aber in Kuttlers Fall gab es nichts zu klären. Und vor allem hatte Kuttler nichts zu rechtfertigen. Es wäre fast eine Frechheit, von ihm eine Erklärung oder eine Rechtfertigung zu verlangen.
»Diese andere Sache«, fuhr Englin fort, »die ist ja sehr... wie soll ich sagen? Ja doch, sehr zufriedenstellend verlaufen, nicht dass der Sachverhalt nicht äußerst bedauerlich wäre, aber er ist von uns aufgedeckt worden, bevor noch größerer Schaden entstanden ist, das darf einen doch auch mit Genugtuung erfüllen, und wenn der Herr Rechtsanwalt Dannecker sich jetzt noch beim Innenminister beschweren will, dann wünsche ich ihm gutes Gelingen... da fällt mir ein: Sollten wir nicht auf einen Haftbefehl gegen ihn drängen?«
»Ich weiß nicht, ob wir jetzt bereits viel Erfolg damit haben werden«, antwortete Tamar. »Was die Unterschlagungen betrifft, so ist er weitgehend geständig. Also keine Verdunkelungsgefahr. Zwar ist der Schaden so groß, dass Dannecker wohl nicht mehr mit Bewährung davonkommen wird. Aber ob das ausreicht, um eine Fluchtgefahr anzunehmen...«
»Ich weiß schon«, antwortete Englin, »diese neue Generation von Haftrichtern ist noch immer recht skrupulös. Nun gibt es da noch diese andere Sache, die Geschichte mit dem jungen Mann, durch die unsere ganzen Ermittlungen ja erst ausgelöst worden sind. Und da ist es doch mit Händen zu greifen, dass Dannecker in Panik gerät, als dieser Student aufkreuzt und nach dem Geld fragt, das unser sauberer Rechtsanwalt längstveruntreut hat. Dannecker weiß sich nicht mehr anders zu helfen und schickt dem Studenten das Mädchen auf den Hals, das ihn in die Falle lockt.« Englins Hände klatschten zusammen, als wollte er eine Motte fangen. »So! Aber jetzt ist er es, der in der Falle sitzt... Haben Sie schon mit Staatsanwalt Desarts gesprochen?«
»Ja«, sagte Tamar, »aber die Staatsanwaltschaft gibt sich noch sehr bedeckt. Bevor nicht ein neues verkehrstechnisches Gutachten zum Hergang des Unfalls vorliegt, will sie in dieser Richtung gar nichts unternehmen. Außerdem sollten wir erst diese Solveig Wintergerst vernehmen.«
Englin runzelte die Stirn. »Die hat sich doch nach Frankreich abgesetzt? Aber dort kennen sie keine polizeiliche Meldepflicht.«
»Jein«, antwortete Tamar. »Wenn man in Frankreich arbeiten will, braucht man sehr wohl eine Genehmigung. In Paris gibt es dafür eine zentrale Stelle, 93 Avenue Parmentier, 11. Arrondissement.« Sie klappte ihre Schreibmappe auf und legte Englin den Ausdruck einer E-Mail auf den Tisch. »Ich habe mich gestern mit einem Ersuchen um Amtshilfe an die französische Polizei gewandt. Heute Nachmittag kam die Antwort.«
Englin nahm das Schreiben und setzte seine Lesebrille auf. Murmelnd las er vor, was er von dem Text verstand: »Magasin d’alimentation... Rue Lamarck... 18. Arrondissement... Sagen Sie«, Englin hatte aufgehört zu murmeln und nahm auch seine Lesebrille wieder ab, »kann das wirklich sein, dass diese männermordende Nymphe in einem Lebensmittelladen arbeitet?«
Tamar gab zu, dass auch sie etwas verwundert gewesen war.
W as, um Gottes willen, ist hier passiert?«
Durch das Zimmer zog Alkoholdunst, zum Schneiden dick. Hattakuk, wie ihn Kuttler getauft hatte, lag friedlich auf seinem Kissen und schnarchte mit halb offenem Mund. Auf dem Nachttisch stand ein Zahnputzglas mit dem Rest einer bräunlichenFlüssigkeit. Die Krankenschwester nahm das Glas und schnüffelte daran. Dann stellte sie es angewidert wieder zurück.
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