Uferwechsel
der Straßenbahn zu sitzen, eben hatte ich das typische Kreischen vernommen, das erklang, wenn das Tram in eine enge Kurve bog. Auch konnte ich Stimmen im Hintergrund hören.
»Sagen Sie mir, in welchem Verhältnis Sie zu Said standen. Waren Sie sein Liebhaber? Sein Geldgeber?«
»Lassen Sie es gut sein, Herr Kumar, ich möchte nicht Teil dieser Ermittlung werden.«
»Das sind Sie längst!«, rief ich ungehalten. Eine blecherne Ansage schepperte aus den Lautsprechern der Straßenbahn. Unverzüglich wurde die Verbindung abgebrochen.
Wütend starrte ich auf mein Telefon, aus dem höhnisch der Besetztton erklang. Ich sprang auf, holte mein Laptop und gab eilig Bürkliplatz bei der Kartensuchfunktion ein, denn diesen hatte die Ansagerin im Tram eben angekündigt, ich hatte es deutlich gehört. Der Platz lag am See, gleich vor der Quaibrücke. Mein Auftraggeber musste demnach von der Bahnhofstrasse her gekommen sein, die Tramschienen bogen an deren Ende scharf nach links ab. Daher das schrille Quietschen.
Nur zu gern hätte ich gewusst, was der Mann dort gewollt hatte. Vielleicht war er aber auch weitergefahren, ich hatte keine Möglichkeit, dies rauszufinden. Die Spielchen des Mannes ärgerten mich maßlos und ich nahm mir vor, ihm beim nächsten Mal gehörig die Meinung zu sagen.
Ich nippte an meinem Glas und besah mir missmutig die Gegend rund um den Bürkliplatz. Dank Google Maps stellte sie sich mir haargenau so dar, wie sie war. An dem Tag der Aufnahme hatte die Sonne geschienen, es war wohl früher Morgen gewesen, denn es waren kaum Leute unterwegs. Der für Zürcher Verhältnisse relativ breite General-Guisan-Quai war praktisch verkehrsfrei. Mit Blachen abgedeckte Segelschiffe dümpelten auf dem See, an der Quaimauer stand ein einsamer Mann und blickte ins Wasser hinunter. Sekundenlang starrte ich auf die Karte. Ich wusste, dass ich diesen Ausschnitt erst kürzlich gesehen hatte.
Hastig gab ich die Adresse der Datingseite ein, suchte Saids Profil, vergrößerte mit einem Mausklick eins der Fotos – und ballte triumphierend die Faust. Durch das Fenster hinter dem jungen Marokkaner waren ein paar Baumkronen zu sehen, dazwischen ein Stück See. Auch wenn der Hintergrund etwas verschwommen war, erkannte ich doch eindeutig die Quaimauer, ebenso den Bootssteg im Wasser. Ich glich die Aufnahmen mit der Karte im Internet ab und fand schnell heraus, wo die Fotos höchstwahrscheinlich gemacht worden waren: in einem der mittleren Stockwerke eines auffälligen, tomatenroten Gebäudes, das mit Fresken und Türmchen verziert war. Ich leerte das Glas in einem Zug und schnappte mir die Autoschlüssel.
Das rote Schloss, wie das imposante Bauwerk aufgrund der Farbe seiner Fassade genannt wurde, war umgeben von einem schmiedeeisernen Zaun, der in regelmäßigen Abständen von orientalisch anmutenden Steintürmchen unterbrochen wurde. Dahinter, auf einem schmalen Rasenstreifen, wuchsen Bäume und Büsche unterschiedlichster Gattungen, während etliche von hellem Sandstein umrahmte Erker und Balkone mit filigranen Säulen das Erscheinungsbild der Frontseite bestimmten. Das rote Schloss war Ende des neunzehnten Jahrhunderts vom Architekten Heinrich Ernst erbaut worden, heute gehörte das Gebäude der Rentenanstalt und diente als Geschäfts- und Wohnhaus.
Dem Aufnahmewinkel nach musste das Foto von Said in einer der Wohnungen im rechten Flügel gemacht worden sein, deswegen betrat ich das Grundstück durch den Seiteneingang an der Beethovenstrasse.
Etwas unschlüssig studierte ich die Klingelschilder, auf denen nebst diversen englischsprachigen Firmen auch ein Orthopäde, Allgemeinärzte und eine Schönheitsklinik verzeichnet waren, dazwischen fanden sich auch einige Familiennamen. Auf gut Glück drückte ich so viele Klingeln, wie ich mit einer Hand schaffte. Nach wenigen Sekunden knackte es in der Gegensprechanlage und eine Frauenstimme erkundigte sich auf Französisch, wer da sei. Ich murmelte eine unverständliche Antwort, worauf unmittelbar der Türöffner summte.
»C’est qui?«, rief von einem der oberen Stockwerke dieselbe Stimme, kaum hatte ich das Haus betreten. Ich drückte die Tür geräuschlos zu und verharrte im Flur.
»Allô? Qui est là?« Ein Schatten fiel über den Treppenschacht. »C’est toi, Fred?«
Ich rührte mich nicht.
»Fred?«
Einen Augenblick lang herrschte Stille.
»Merde!«, hörte ich die Frau dann leise fluchen, bevor sie vom Treppengeländer zurücktrat. Kurz darauf wurde eine Tür
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