Uferwechsel
zugeschlagen.
Ich schickte mich gerade an, die Treppe hochzusteigen, als oben jemand auf den Gang herausstürzte. Ein Schlüsselbund rasselte und ein Schluchzen war zu vernehmen, gefolgt von hastigen Schritten auf den Stufen. Ich bewegte mich so geräuschlos wie möglich wieder die Treppe hinunter und sah mich nach einem Versteck um, fand aber auf die Schnelle keins. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Flucht zu ergreifen und mich draußen hinter der Mauer neben dem Eingangstor zu verstecken. Gleich darauf trat eine Frau mit lockigen roten Haaren aus dem Haus. Sie sah verheult aus. An der Pforte blieb sie stehen, schnäuzte sich in ein Papiertaschentuch und steckte es in den Ärmel ihrer Wolljacke. Dann zog sie den lindgrünen Schal bis zum Kinn und hastete, ohne sich umzusehen, über die Straße und am Kongresshaus vorbei, das sich gleich gegenüber befand.
Ich wartete ab, bis sie verschwunden war, bevor ich zur Eingangstür zurücklief, um erneut zu klingeln. Diesmal blieb alles ruhig. Samstagmittag, die wichtig und international klingenden Firmenbüros waren kaum besetzt und die Ärzte, sofern sie nicht ohnehin nur unter der Woche arbeiteten, wohl in der Lunchpause.
Ich ging um das Gebäude herum und versuchte es am Hauptportal, doch weder dort noch bei den Seiteneingängen an der Stockerstraße öffnete jemand die Tür.
Ich war keineswegs sicher, dass sich mein anonymer Arbeitgeber zurzeit in diesem Gebäude befand. Ich wusste nicht einmal, ob er die Fotos gemacht hatte oder jemand anders. Ich hatte lediglich ein paar Fakten kombiniert. Die Ausgangslage war zugegebenermaßen dürftig, leider hatte ich keine anderen Anhaltspunkte zur Hand, um den anonymen Anrufer ausfindig zu machen.
Ich war davon überzeugt, dass er mir wichtige Informationen zu Said vorenthielt. Puzzlesteine, die mein Bild von dem jungen Mann vervollständigen oder zumindest genauer definieren würden und mich eventuell sogar zu seinem Mörder führten. Ich beschloss, im Käfer abzuwarten, ob sich in Kürze was tat. Glücklicherweise hatte ich einen Parkplatz an der Beethovenstrasse gefunden, etwas entfernt vom Seiteneingang zwar, aber noch in Sichtweite. Ich schaltete die Heizung im Wagen ein und drehte leise Musik an. Irgendeine Talentshowgewinnerin, die so klingen wollte wie Beyoncé, krampfte sich an einem Stück ab, das genauso austauschbar war wie sie selbst. Der Moderator kündigte weitere Schneefälle an, machte in dem Zusammenhang einen lahmen Witz über den enormen Kokainverbrauch in Zürich von angeblich neunzehntausend Linien an einem durchschnittlichen Samstagabend. Dann leitete er gleich zum nächsten Song über, ein an Hysterie grenzendes, respekt- und liebloses Remake des Titelsongs von Dirty Dancing , dem irgendein uninspi riert vor sich hin hämmerndes Stück von David Guetta folgte. Hätte es in meiner Macht gestanden, ich hätte den französischen DJ und die Black Eyed Peas samt ihrer lausigen Mucke auf den Mond geschossen.
Während ich mit einem Auge die Haustür observierte, tippte ich auf dem Smartphone herum, das ich mir entgegen etlicher Vorbehalte zugelegt hatte. Mittlerweile war ich allerdings schon mehr als einmal froh darum gewesen, konnte ich mich doch sogar spätnachts orientieren, wo ich mich gerade befand, wie viel Promille ich in etwa intus hatte und wie weit es bis zur Adresse war, die ich gerade suchte. Meist war das ohnehin meine eigene. Zudem war es mir möglich zu überprüfen, welche der nächstliegenden Bars mir am meisten zusagte, wie teuer dort ein Drink war, um dann postwendend anhand meines notorisch tiefen Kontostandes zu entscheiden, wie viele ich mir davon leisten konnte. Eine fabelhafte Erfindung, die noch über etliche Dutzend weiterer Spielereien verfügte, von welchen ich jedoch nur selten Gebrauch machte.
Jetzt gerade fand ich es durchaus praktisch, über einen mobilen Internetzugang zu verfügen. So konnte ich mein neu erstelltes Profil auf der schwulen Datingseite überprüfen, während ich wartete.
Es hatte sich einiges getan. Gespannt ging ich die Besucherliste durch und sah mir all die Typen an, die mein Profil seit gestern Abend angeklickt hatten, nur um enttäuscht festzustellen, dass sich kein Silberwolf darunter befand. Dafür waren einige Nachrichten in meiner Messagebox eingegangen. Die meisten lauteten verwirrenderweise nur Hi, Fit? oder dann gleich Geil? Eloquenz und Gewitztheit schienen hier bei der ersten Kontaktaufnahme nicht weit verbreitet, umso mehr setzte man
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