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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Mann
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probiert?«
    Marwan stellte uns Fragen, als wären wir kleine Kinder und er hielte ein halbvolles Nutellaglas in der Hand. Gereizt verneinte ich.
    »Nein«, bekräftigte auch Kathi. »Ist es das, was ich meine?«
    Ihr Gesicht hatte wieder etwas Farbe bekommen, sie beugte sich eifrig vor und harrte mit gespanntem Ausdruck auf eine Reaktion von Marwan. Dieser hielt nun den Tiegel direkt unter das Licht der Lampe und betrachtete die Salbe eingehend, bevor er sie wieder zur Nase führte, um viel vorsichtiger als beim ersten Mal daran zu schnuppern.
    »Sag schon, was ist es?«, quengelte Kathi und diesmal blickte Marwan sie direkt an.
    »Ich würde sagen: Flugsalbe.«
    Kathi stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Eine Sekunde lang wirkte sie hell begeistert, bevor ihr Gesichtsausdruck ins Gegenteil umschlug und sie nur noch besorgt aussah. Sehr besorgt. »Aber woher hat Nils so was?«
    Marwan hob seine hageren Schultern, die unter dem Stoff seines Oberteils knochig hervorstachen. »Die Rezeptur findet man in alten Büchern oder noch einfacher im Internet. Einzig die Dosierung ist schwierig, nicht nur weil die Wirkkraft der Pflanzen variiert, sondern auch weil jeder Körper anders auf das Mittel reagiert. Ist die Mischung nicht perfekt austariert, kann es sehr gefährlich werden, mitunter sogar tödlich.«
    »Würde mich bitte auch jemand einweihen?«, unterbrach ich ungeduldig die Fachsimpeleien der beiden.
    Schuldbewusst richtete sich Kathi auf, doch ehe sie den Mund öffnen konnte, lehnte sich Marwan zu mir herüber. »Wir reden hier von einer hochgiftigen Substanz, die gemeinhin Flugsalbe oder auch Hexensalbe genannt wird …«
    »Gemeinhin?«
    Marwan neigte leicht den Kopf. »Der Sage nach beschaffte der Teufel diese Salbe für die Hexen, damit diese in der Walpurgisnacht zum Ort ihres Hexensabbats fliegen konnten …«
    »Buchen Sie jetzt ihren Besenstiel: Wochenendtrips mit Satanair!«, kalauerte ich, doch weder Marwan noch Kathi gingen darauf ein.
    »Es gibt Aufzeichnungen aus dem Mittelalter, die von Experimenten mit der Salbe an jungen Frauen berichten, auch Rezepte wurden überliefert«, fuhr Marwan fort. »Man nimmt aber an, dass ähnliche Gemische bereits viel früher angewendet wurden, bei den Römern und Griechen, im alten Ägypten, bei den germanischen Stämmen und ihren Druiden. Nur Humbug ist das alles nicht, auch wenn es gern so dargestellt wird.«
    »Und was bewirkt sie tatsächlich?«
    »Sie verleiht einem das Gefühl, fliegen zu können.«
    Dies hatte Nils in der vergangenen Nacht eindrücklich bewiesen. Ich suchte Kathis Blick und sah, dass sie dasselbe dachte wie ich.
    »Man trägt die Salbe auf die Haut auf«, erläuterte Marwan weiter, »dort wo sie am dünnsten ist, an den Handgelenken, den Armbeugen und Fußsohlen, auf der Stirn, an der Stelle zwischen den Augen, am Geschlecht. Setzt die Wirkung ein, was ziemlich schnell der Fall ist, kribbelt es, als würden einem Federn wachsen. Man bekommt Sehstörungen und Herzrasen, daraufhin setzen Halluzinationen ein, oft begleitet von sexuellen Fantasien. So erklärt sich vielleicht auch die Sage von den Hexen, die auf ihren Besen um den Blocksberg ritten und wilde Orgien mit dem Teufel feierten. Aber wie gesagt, die richtige Dosierung ist sehr schwer zu bestimmen, da jeder Körper anders auf die Substanzen reagiert und die Wirkung der Pflanzen von verschiedenen Faktoren wie Jahreszeit, Standort und Bodenbeschaffenheit beeinflusst wird. Die meisten Zutaten sind ohnehin hochgiftig, die verwendeten Mengen sind sehr nahe an der tödlichen Dosis.«
    »Woraus besteht die Salbe denn?«
    Marwan lachte leise. »In ganz alten Rezepten ist die Rede von Kinderfett, auch Fledermausblut, Schlangen und Kröten, wobei nur die Letzteren als Zutat Sinn ergeben, da in ihrer Haut das Gift Bufotenin enthalten ist. Ansonsten besteht die Salbe aus verschiedenen toxischen Pflanzen …« Unvermittelt runzelte er die Stirn, bevor er sich wortlos erhob und eilig im Flur verschwand.
    Ich sah Kathi an. »Was hältst du davon? Ist doch alles esoterisches Gewäsch, nicht?«
    Zu meiner Überraschung blieb ihre Miene ernst.
    »Es gab in der Szene immer wieder Gerüchte über diese Salbe. Über unglaubliche Experimente und Erfahrungen. Wie es scheint, war das alles nicht erfunden, die Substanz ist tatsächlich im Umlauf.«
    Ich langte nach dem Töpfchen, besah mir den Inhalt erneut und roch daran. Der ranzige Geruch erinnerte mich an altes Schweineschmalz, doch rein gar nichts deutete

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