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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Mann
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unter den Bögen des Viadukts hindurch zur Straße. Wir liefen ihm ein Stück hinterher und sahen den rot leuchtenden Rücklichtern nach, bis sie verschwunden waren. Es lag eine Endgültigkeit in diesem Moment, eine Trauer, die selbst ich empfand, obwohl ich Nils kaum gekannt und sicherlich nicht gemocht hatte.
    Nach einer Weile zog Kathi ihre Hand zurück. Ich fühlte mich wie betäubt, als sei ich aus einem Albtraum erwacht. Nur zu gern hätte ich ihr etwas Tröstliches gesagt, doch mir fehlten die Worte.
    »Ich habe meine Jacke beim DJ deponiert«, bemerkte sie tonlos und ich erinnerte mich, dass Miranda ihm meine ebenfalls übergeben hatte. Wir kehrten zurück in den Klub und überquerten die Tanzfläche, wo man noch nichts von den Geschehnissen draußen mitbekommen zu haben schien oder sich wenig darum scherte, und steuerten auf das DJ-Pult zu.
    »Welche gehören euch?«, fragte der aus der Nähe gar nicht mehr so jung wirkende, dafür über und über tätowierte Discjockey. Ich deutete auf meine Winterjacke, die über einem Plattenkoffer lag, während Kathi sich einen Ledermantel aushändigen ließ. Sie war im Begriff hineinzuschlüpfen, als sie plötzlich innehielt und auf eine weitere Jacke deutete.
    »Die da nehme ich auch mit, ist für einen Freund.«
    Argwohn schien dem DJ komplett fremd, denn ohne zu zögern, reichte er ihr das Kleidungsstück, eine Kapuzenjacke mit putzigen Felleinsätzen.
    Ich hielt nach Miranda Ausschau, doch ich konnte ihren Blumenstraußhut in der wogenden Menschenmenge nicht entdecken. Wahrscheinlich war sie ohnehin beschäftigt und würde den Weg nach Hause oder wohin auch immer selbst finden.
    Im grellen Neonlicht der Tramhaltestelle wirkte Kathi noch mitgenommener. Ihr Make-up war zerlaufen und ihre Nase vom Heulen gerötet. Sie hatte ihre Handtasche wieder aus dem Müllcontainer gefischt, jetzt lag sie neben ihr auf der Sitzbank, während sie Nils’ Jacke auf den Knien hielt und mechanisch mit der Hand darüberfuhr, als wäre sie ein Kuscheltier.
    »Er hatte echt Talent. Nur haben das die Juroren dieser popeligen Castingshow nicht bemerkt. Aber er war eh zu Größerem bestimmt … Er hat sich immer beklagt, dass er bei der Sendung nur auf sein Schwulsein reduziert worden sei. Dabei hatte er so viel mehr zu geben. Er war ein wahnsinnig talentierter Sänger, ein echter Künstler. Hast du ihn mal im Fernsehen gesehen?«
    »Ich guck so was nicht.«
    »Ich habe den Auftritt aufgezeichnet«, fuhr Kathi unbeirrt fort. »Du kannst ihn dir gern ansehen, wenn du magst.«
    Ich hob abwehrend die Hände, doch Kathi ließ sich davon nicht abhalten: »Leider haben sie nicht alles gesendet und ihn nach zwanzig Sekunden ausgeblendet. Aber einen Platz in der Endrunde hätte er sich damit allemal verdient. Verdammt!« Tränen liefen ihr übers Gesicht, während sie Nils’ Jacke an sich drückte und ihre Nase tief in das Kunstfell des Kragens presste. Mit einem Mal erstarrte sie.
    »Was ist?«, erkundigte ich mich besorgt.
    Anstelle einer Antwort begann sie, die Jacke hin und her zu wenden und die Taschen abzuklopfen. Schließlich zog sie einen kleinen Tiegel hervor, den sie mit kritischer Miene hochhielt, bevor sie den Deckel abdrehte und am Inhalt schnupperte. Sie verzog das Gesicht.
    »Was ist das?«
    Kathi hielt mir das Töpfchen unter die Nase. Die Salbe, die darin enthalten war, roch vor allem ranzig und entfernt nach Kräutern und Pilzen.
    »Ich wusste nicht, dass Antifaltencremes derart stinken.«
    Kathi ging nicht auf meinen lahmen Witz ein und schnupperte erneut an der Paste, dann verschloss sie den Tiegel schnell und steckte ihn ein.
    »Und?«, fragte ich, von ihrem Verhalten etwas verwirrt.
    »Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie nachdenklich. »Aber wenn es das ist, was ich vermute, dann ist das Zeugs über alle Maßen gefährlich.«
    »Und was denkst du, dass es ist?«
    »Ich möchte zuerst jemanden fragen, der sich damit auskennt. Kommst du mit?«
    Ohne meine Zusage abzuwarten, erhob sie sich und deutete auf die sich nähernde Straßenbahn, an deren Stirnseite eine schwarze Dreizehn auf gelb leuchtendem Hintergrund prangte. »Oder hast du was Besseres vor?«
    Marwan schien über den späten Besuch nicht erstaunt. Er streckte sich und gähnte herzhaft, als seien wir gar nicht anwesend, bevor er wortlos im Flur verschwand und dabei die Tür offen stehen ließ. Er trug eine beige Leinenhose und ein ehemals weißes Shirt mit langen Ärmeln, das um seinen hageren Körper schlabberte,

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