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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Mann
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Nichts!«
    »Die Gemeinde betet für uns.« Ihre Stimme zitterte.
    »Rebekka, wie kannst du nur so verblendet sein? Selbstmord ist eine Sünde, welche unsere gütige Kirche nicht vergibt! Oder kannst du mir erklären, aus welchem Grund du sonst alle Fotos von Kevin weggeschlossen hast?«
    Frau Steiner wich dem verzweifelten Blick ihres Mannes aus.
    »Nein, meine Liebe, da betet kein Schwein für Kevin, im Gegenteil! Sie waren froh … was sage ich: überglücklich! Überglücklich waren sie, dass er nicht mehr dabei war!«
    »Das stimmt nicht! Es ist alles deine Schuld! Du hast Kevin dazu ermuntert, seinen Weg zu gehen! Selbst zu wählen! In der Kirche wäre er gut aufgehoben gewesen. Dann wäre er nicht … so geworden.«
    »Rebekka, du redest Unsinn, das weißt du genau!«
    In der atemlosen Stille, die jetzt eintrat, starrten sich die beiden lange an. Die Wut in ihren Blicken machte allmählich Trauer und Verzweiflung Platz. Zwei Menschen saßen da vor mir, denen das Glück zerbrochen war und die noch nicht gelernt hatten, damit zu leben.
    »Wir haben doch alles richtig gemacht«, sagte Frau Steiner leise.
    »Rebekka, bitte …«
    »Hätte er regelmäßig die Kirche besucht, wäre alles anders gekommen. Sie hätte ihm Halt gegeben und ihn gerettet. Vor den Sünden und der Hölle. Es war ja kein Leben so.« Ihre Lippen zitterten plötzlich, sie sprang auf und verschwand im Flur. Kurz darauf wurde eine Tür zugeschlagen.
    »Jetzt betet sie wieder«, ächzte Steiner, es war wohl abfällig gemeint gewesen, klang aber nur abgekämpft.
    »Sie sind in einer Freikirche?« Ich bemühte mich um einen sachlichen Ton, doch der heftige Streit, der soeben vor meinen Augen ausgebrochen war, hatte auch mich aufgewühlt.
    Steiner nickte und stieß verächtlich den Namen der religiösen Vereinigung aus, der mir jedoch nicht geläufig war. Ich wusste nur, dass gerade im Raum Zürich Dutzende solcher Gemeinschaften existierten und dass sich deren Leiter in der Öffentlichkeit stets gegen den Begriff ›Sekte‹ wehrten, wobei die Gruppierungen de facto genau das waren. Ein Anführer, der sich meist als Stellvertreter Gottes deklarierte und dem die Angehörigen der Bewegung bedingungslos zu gehorchen hatten.
    Bei manchen dieser Vereinigungen wurden als Motivationsantrieb Weltuntergangsszenarien entworfen, welche die Gläubigen im Gegensatz zu der Restbevölkerung natürlich auf wundersame Weise alle überleben würden, solange sie taten, was ihr Führer von ihnen verlangte. Erfolgte – wie bislang in allen bekannten Fällen – am vorausgesagten Datum keine Apokalypse, wurde eiligst ein neuer Termin anberaumt, der Druck erhöht und mit drakonischeren Strafen für Zweifler und Abtrünnige gedroht. Es gab Leute, die trotzdem dabeiblieben. Mehr oder weniger freiwillig.
    Von der Nähe der Stadt versprachen sich diese Kirchen nicht nur regen Zulauf von Sinn- und Haltsuchenden, sondern vor allem von den finanzstärkeren Mitgliedern die eine oder andere großzügige und selbstverständlich komplett zwanglose Spende, schließlich machte der Glaube allein nicht satt.
    »Kevin war ebenfalls Mitglied dieser Sekte?«, erkundigte ich mich bei seinem Vater.
    »Kirche, wir sind eine Freikirche«, betonte Steiner mit Nachdruck. Wie es schien, war es okay für ihn, wenn er über die Vereinigung schimpfte, kritische Bemerkungen eines Außenstehenden wurden jedoch nicht toleriert.
    »War er?«
    »Er ist ausgestiegen. Ich habe ihn darin bestärkt, doch seine Mutter hat es nie begriffen.« Er erhob sich und öffnete einen Schrank, dem er eine Flasche Kognak entnahm.
    »Trinken Sie einen mit?«
    Eine Frage, die ich meines Wissens noch nie mit Nein beantwortet hatte. Steiner stellte zwei Schwenker auf den Tisch und schenkte großzügig ein. Wir stießen an und er leerte das Glas mit einem Zug, bevor er es gleich wieder bis zur Hälfte füllte.
    »Weshalb ist Kevin aus der Freikirche ausgetreten?«, nahm ich das Gespräch wieder auf.
    »Er … fühlte sich nicht mehr wohl.«
    »Weil er schwul war?«
    Steiner zuckte zurück und presste die Lippen zusammen.
    »Diese Freikirchen sind, soviel ich weiß, nicht gerade für ihre Toleranz gegenüber Minderheiten und Andersdenkenden bekannt«, fuhr ich fort, jetzt da ich wusste, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. »Er war wohl das ganze verlogene Gequassel über Nächstenliebe und Gemeinschaft leid.«
    »Es war nicht der richtige Ort für ihn.«
    »Herr Steiner, Sie beschönigen da einen Missstand! Ich kann mir

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