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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Mann
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Jugendtreff, okay?«
    Ich nickte, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich wusste wovon er sprach.
    Er warf mir einen überraschten Blick zu, dann ließ er die Hanteln sinken und legte sie zurück in das Gestell, wo sie nach Gewicht sortiert waren. »Wir haben da manchmal zusammen was getrunken und gequatscht.« Thomas fuhr sich durchs Haar. Er hatte ein offenes, aufrichtig wirkendes Gesicht und ich schätzte ihn auf etwa zweiundzwanzig.
    »Ihr wart nicht zusammen?«
    »Nun, Kevin war in dieser Hinsicht etwas …«
    »Verklemmt?«
    »Zurückhaltend, würde ich sagen. Er war ein hübscher Junge, trotzdem hat er sich nie abschleppen lassen, soviel ich mitbekommen habe. ›Die eiserne Jungfrau‹, haben sie ihn im Spot genannt. Kein Wunder bei diesen Eltern. Die haben ihm das Leben verdammt schwer gemacht. Die waren Mitglieder in einer Freikirche …«
    »Ich weiß, deswegen bin ich hier. Sein Vater hat mir gesagt, dass du eine Art Vertrauter für Kevin gewesen bist. Er hat mir auch gesagt, wo ich dich heute finden könnte.«
    »Am Sonntag ist es hier relativ ruhig. Aber ich komme oft hierher, drei Mal die Woche.« Er deutete in Richtung Nebenraum, woher das gleichmäßige Klacken der Trainingsmaschinen zu uns herüberdrang.
    »Worüber hast du dich mit Kevin unterhalten?«
    Thomas trocknete sich den Schweiß auf der Stirn mit einem Frotteetuch, das er sich im Anschluss über die Schulter warf. »Über alles, über nichts. Wie das halt so ist. Man erzählt sich irgendwelche Dinge und vergisst das Gesagte gleich wieder.«
    »Glaub ich dir nicht.«
    »Ist aber so. Du hast ja keine Ahnung, wie viel oberflächliches Zeugs geredet wird.«
    Ich hatte eine Ahnung, aber das behielt ich für mich. »Wie lange habt ihr euch gekannt?«
    »Zwei Jahre etwa …«
    »Und in diesen zwei Jahren habt ihr nie über etwas Persönliches geredet?«
    »Wir waren ja nicht eng miteinander befreundet, echt nicht. Es war eher eine lockere Bekanntschaft, obwohl ich ihn gern mochte. Aber so eine richtige Freundschaft war mit ihm nicht möglich, das habe ich schnell lernen müssen. Es lag an seiner Familie. Obwohl er ausgetreten war, saß die Heilslehre immer noch in seinem Kopf und hat ihn bestimmt. Die haben das richtig eingeätzt, voll die Gehirnwäsche. Für ihn blieb ich immer ein Außenstehender, einer der nicht dazugehört.«
    »Zur Sekte?«
    »Genau. Und solchen Leuten, solchen Ungläubigen, wie er mir einmal erzählt hat, durfte man als Mitglied der Kirche nicht trauen. Ich weiß nicht, ob er sich je so entspannt hätte, dass mehr möglich gewesen wäre. Ob er das jemals ganz hätte hinter sich lassen können. Er war innerlich wie zerrissen, wusste überhaupt nicht, wohin er gehörte und wer er wirklich war.«
    Thomas rieb sich nachdenklich die Oberarme.
    »Verhielt er sich kurz vor seinem Tod anders? Gab es Hinweise auf einen Selbstmord?«
    »Kevin hat mehrmals ein Austauschjahr in Amerika erwähnt und dass ihm das seine Mutter verboten hätte.«
    »Weshalb?«
    »Für sie war Amerika der Inbegriff von Sünde. Sie wusste von den freizügigen Musikvideos und hatte gehört, dass dort die weltweit größte Pornoindustrie beheimatet ist. Sie hatte panische Angst, dass Kevin in diese Szene geraten könnte, gerade weil er so jung war und auch noch schwul.«
    Wenn ich an Amerika und Sünde dachte, kamen mir auf die Schnelle nur Doppelmoral und Prüderie in den Sinn. Der erzkonservative Kongressabgeordnete, der in männlicher Begleitung und mit heruntergelassener Hose in einer Flughafentoilette verhaftet wurde, oder der landesweite Aufschrei bei Janet Jacksons Nippeldesaster, nachdem die Sängerin bei ihrer musikalischen Darbietung während des Super Bowls ihre – wohlgemerkt an kritischer Stelle abgedeckte – Brust entblößt hatte. Da war in jedem französischen Spielfilm Verruchteres zu sehen – unzensiert und zur besten Sendezeit.
    »Die Leute in diesen Sekten leben teilweise so weltfremd, dass ihnen ein Video von Lady Gaga oder Eminem wie eine Botschaft aus der Hölle vorkommt«, fuhr Thomas fort. »Das weiß ich von Kevin.«
    »Seine Amerikapläne wurden daraufhin endgültig gestrichen?«
    Thomas nickte. »Er war ein paar Wochen lang ziemlich down, doch dann ging’s ihm plötzlich wieder besser. Viel besser. Erst dachte ich, er sei darüber hinweg, aber dann erzählte er mir von dieser Organisation.«
    »Die ihm dabei helfen sollte, sich zu verändern.«
    Verdutzt sah er mich an. »Woher weißt du das?«
    »Ich hatte so eine Ahnung. Worum

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