Uhrwerk Venedig (German Edition)
sich von der Mauer löste und rasch den Kanal entlangsauste. Seine Hand umklammerte die schmale Reling der Gondel.
»Lucio, ich glaube kaum, dass wir je alle Schattengeschöpfe erwischen werden. Dein Meister hat Geister gerufen, die uns bis zum Tag des Jüngsten Gerichts verfolgen werden.«
»Dann ist es eben Gottes Wille, meine Buße mit der Jagd nach diesen Dämonen zu vollziehen. Ich habe den Unterhändler des Söldnerführers getötet, um meinen Meister und sein unseliges Tun zu decken. Ich bin nicht eingeschritten, als er seine Machina baute. Ich hätte-«
»Die Klappe zu halten«, fuhr Gustav ihm dazwischen. »Wir sind nicht in der Kanzel, oh Bruder Lucio, zukünftiger Schutzheiliger der Verzweifelten. Wir sind auf der Jagd. Und durch dein Gegreine werden wir heute Abend alle Schatten eher verjagen, statt sie zu vernichten.«
Lucio lehnte sich zurück und schwieg, wofür Gustav dankbar war. Nach den Vorfällen in Giacomos Werkstatt, vor beinahe zwei Jahren, war aus ihm ein verbissener Streiter geworden. Ein Jäger, der alles, was auch nur entfernt mit diesen Vorfällen im Zusammenhang stand, wie Freiwild hetzte, stellte und schließlich vernichtete. Ob Mensch oder Schattenwesen spielte dabei für Gustav keine Rolle. Der lebenslustige junge Mann, der er einst gewesen war, war verschwunden. Tief vergraben unter den Bildern des Grauens, die er gesehen hatte. Ob er jemals wieder hervorkommen würde?
Gustav schüttelte den Kopf und richtete seine Aufmerksamkeit auf die vor ihm liegende Jagd. Im schwachen Licht der Sterne kontrollierte er seine neue Handarmbrust. Eine Erfindung Giacomos, die es einem Schützen durch eine Mechanik erlaubte, bis zu zehnmal in einer Minute zu schießen, ohne einen Bolzen nachladen oder die Armbrust spannen zu müssen. Es reichte, einen kleinen Hebel umzulegen. Die Mechanik spannte die Sehne, die über den Schaft rieb und dabei ein schmales Stück Holz auf dem Schaft nach hinten schob. Sobald die Sehne komplett gespannt war, fiel die Holzscheibe hinter die Hand des Schützen, und ein Bolzen wurde durch eine Feder nach oben auf den schussbereiten Schaft geführt. Gustav kontrollierte das Magazin der Handarmbrust und zog die Mechanik auf. Dann griff er nach den kleinen Bombas. Er zog ihre Uhrwerke auf, welche die Zündung verzögerten, und hoffte zutiefst, dass er dieses Teufelszeug nicht würde einsetzen müssen. Nicht größer als die Faust eines Mannes, entfesselten sie bei ihrer Zündung eine Hölle, die ihre geringe Größe Lügen strafte.
Eine Berührung an seiner Schulter ließ Gustav aufblicken. Roberto deutete in den Himmel und Gustav folgte mit den Augen dem ausgestreckten Arm. Ein Schatten, der wie ein großer Vogel wirkte, schwebte über ihnen. In regelmäßigen Abständen blinkte ein helles Licht an der Unterseite des Schattens auf. Gustav kniff die Augen zusammen.
»Salvatore meldet, dass sich irgendwo vor uns ein Schatten befindet.« Verwirrt runzelte er die Stirn, als er den weiteren Verlauf der Botschaft entschlüsselte. Plötzlich sprang er auf.
»Roberto, Adriano! Werft den zweiten Motor an! Salvatore meldet einen Schatten direkt vor uns im Kanal!«
Roberto balancierte nach hinten und legte an dem schwarzen Kasten, in dem das Werk für den Motor versteckt war, einen Hebel um. Das Surren und Ticken verdoppelte sich, als die Kraft zweier Werke die Gondel antrieb. Schaum wirbelte am Heck der Gondel auf und das schmale Boot schoss mit einem Satz nach vorne. Adriano, der Gondoliere, legte sich ins Ruder und versuchte die Gondel im Griff zu behalten. Roberto griff sich den Schlüssel zum Aufziehen der Werke und wartete, bis der erste Motor abgelaufen war. Dann steckte er den Schlüssel ein und zog das Werk erneut auf.
»Nach rechts«, rief Gustav von vorne. »Der Schatten nimmt den Weg zur Seufzerbrücke!«
»Das führt uns zum Canale Grande«, rief Roberto, während er weiter mit aller Kraft an dem großen Schlüssel drehte. »Dort werden wir ihn verlieren!«
Gustav drehte sich um und blickte mit unverhohlenem Zorn auf Roberto.
»Und wenn schon! Ich will ihn. Ich will sie alle! Ich will sie für das bestrafen, was sie mir angetan haben!«
Bei den letzten Worten holte er eine der Bombas hervor und legte seinen Daumen auf den Knopf, der das Uhrwerk in Gang setzen würde.
»Ich werde ihn zur Hölle sprengen!« Gustav lachte mit dem Fahrtwind. Dann sah er den Schatten, der über das Wasser glitt, als sei er ein Vogel auf der Jagd nach einem Fisch. Inzwischen hatten
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