Uhrwerk Venedig (German Edition)
äußerst komplizierte Befehle ausführen. Manchmal erschien es Leonardo schon so, als könne es selbsttätig räsonieren und entscheiden. Aber das war natürlich Einbildung.
Er setzte das OMF ein. Schmale Stahlbänder umschlossen es, und schlanke Metallstifte fuhren in kaum sichtbare Öffnungen. Die Glieder des Wesens regten sich. Feinste Pendel registrierten die Schwerkraft und sorgten dafür, dass das Wesen aufrecht stand. Wie schnüffelnd bewegte es seine Nase und hielt auf Leonardo zu. Sobald es in einer Entfernung war, in der der Magnetstein zu sehr nach oben, in Richtung Leonardos Hüfte, gezogen wurde, blieb das Wesen stehen. Zufriedenheit und selbstsichere Spannung zeigten sich auf Leonardos Gesicht. Ursprünglich hatte er diese Gerätschaften mitgenommen, um im Falle einer Eroberung Venedigs durch die Osmanen für seine Flucht gewappnet zu sein. Aber nun gab es Wichtigeres.
Vorsichtig öffnete er die Zimmertür. Im Hause war es ruhig. Es schliefen wohl alle. Mit leisen Schritten ging er auf den Gang und die Treppe hinunter. Hinter ihm rasselte leise Rattus. Er hoffte, das Geräusch würde niemanden wecken.
Sie gingen durch die verlassenen Straßen. Hin und wieder hörte man ein leises Quieken, wenn eine echte Ratte versuchte, sich der mechanischen zu nähern, und mit einem automatischen Biss der messerscharfen Zähne vertrieben wurde. Darauf war Leonardo besonders stolz. Seine empfindlichen Taster, die um das Wesen herum angebracht waren, konnten sehr gut zwischen dem Fell einer Ratte unterscheiden und einem Stein, den man nicht durch einen Biss verscheuchen konnte.
Als er an den Anleger kam, war das mechanische Boot verschwunden. Damit hatte Leonardo gerechnet. Ein solcher Besitz war zu wertvoll, um über Nacht an einem öffentlichen Anleger zu bleiben. Doch das bekümmerte ihn nicht. Wenige Augenblicke und Einstellungsgriffe später schob sein mechanischer Begleiter mit schnellen Paddelbewegungen eine Gondel durch das Wasser. Leonardo lenkte lediglich und war in wenigen Minuten über das recht ruhige Wasser nach Murano geglitten.
Diesen Teil von Venedig konnte man auch in der Nacht nicht verfehlen. Von flackernden Lichtern erhellte Dämpfe und Schwaden lagen über der Insel. Das Laboratorium von Petrucci ragte hell erleuchtet zwischen den niedrigeren Gebäuden empor.
An der Anlegestelle erkannte er das mechanische Boot Scanzos. Das sollte ihn nicht stören. Mit seiner Ausrüstung müsste er problemlos zwei Gegnern widerstehen können. Als er sich, begleitet von seiner nun immer öfter um sich beißenden Metallratte, dem Eingang der Werkstatt näherte, sah er seine Vermutung bestätigt. Nur schwaches Licht drang durch die Glasscheiben.
Leonardo öffnete vorsichtig das Tor. Völlig lautlos schwang es auf. Tatsächlich, niemand war in der großen Halle. Allerdings hörte er Geräusche, die anscheinend aus dem Untergrund kamen, lautes Schleifen, Klopfen, rufende Stimmen und über allem ein Fauchen, wie von unfassbar großen Blasebälgen.
Vorsichtig schlich er entlang und orientierte sich dabei an den Geräuschen. Zuerst kam er wieder in den Raum mit den Operationstischen. Auf einem der Tische lag Francesca. Offensichtlich erholte sie sich von einem Eingriff. Sie schlief und atmete flach. Leonardo trat an den Tisch heran, der noch schwach vom künstlichen Licht beschienen war. Er hob den hellen Umhang auf ihrer Brust beiseite. Seine Befürchtungen waren berechtigt gewesen. Ihr Brustbein wies einen langen senkrechten Schnitt auf. Offensichtlich hatte Petrucci ihr ein künstliches Herz eingesetzt. Er lauschte: Tatsächlich, ein leises Ticken verriet das unablässige Arbeiten des mechanischen Organs.
Der andere Operationstisch war durch einen schweren Vorhang verhüllt. Er schob ihn zur Seite und prallte entsetzt zurück. Sein Magen zog sich zusammen. Was er dort sah, war so grauenvoll, dass er beinahe das Bewusstsein verlor. Sicher hatte er die eine oder andere Leiche seziert. Wie sonst hätte er so klare Vorstellungen vom Verlauf der Muskeln und Sehnen des menschlichen Körpers haben können, die sich in allen seinen Bildern zeigten. Aber das war etwas anderes. Ein menschliches Wesen, offensichtlich männlich, das all seiner Extremitäten beraubt war. Arm- und Beinstümpfe mündeten in mechanische Systeme. Die Arme waren pervers gewinkelte Greifsysteme mit den eigentümlichsten Instrumenten. Die Beine aber waren es, die Leonardo erschauern ließen: Oberschenkel aus geschwungenen Blattfedern, die
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