Uli Borowka - Volle Pulle: Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker (German Edition)
Stunde lang im Kraftraum. Keine einfachen Übungen, Zirkeltraining mit schweren Gewichten! Drygalski war ein eisenharter Typ, der uns erst auf den Rasenplatz entließ, als auch dem Letzten vor Anstrengung die Muskeln zitterten.
Auf dem Platz wartete schon Heynckes mit einem Grinsen im Gesicht. Er scheuchte uns über den Rasen, Laufeinheiten, Technikschulung, Trainingsspiele, Zirkeltraining. Natürlich war ich als junger Kerl dafür zuständig, dass die Bälle aufgepumpt waren, die Trinkflaschen gefüllt und die Tore am richtigen Platz standen. Nach dem Training wurde kurz gegessen, schon ging es ab in die Kojen. Nach so einem Tag willst du nur noch die Augen zumachen. Aber ich konnte nicht schlafen. Habe ich bereits erwähnt, dass ich als einziger Spieler sämtliche Übungen mit einer zehn Kilogramm schweren Bleiweste absolvieren musste? Kaum lag ich im Bett, zitterten meine Beine, meine Arme, mein Oberkörper. Ich hatte höllische Schmerzen, erst nach Stunden übermannte mich der Schlaf. Bereits in der zweiten Nacht waren die Schmerzen so schlimm, die Belastungen des Tages so groß, dass ich Rotz und Wasser heulend aufrecht im Bett saß, das Trainingslager, Drygalski, Heynckes, ja selbst den Fußball verfluchend. Jede weitere Übungseinheit war Folter für meinen Körper, der von der Bleiweste zusätzlich geschunden wurde. Ich fühlte mich nicht am Limit meiner Leidensfähigkeit, ich war schon darüber hinaus. Und als ich eines Abends exakt 60 Sekunden zu spät zum verabredeten Abendbrottermin erschien, machte mich Jupp gleich zur Schnecke. Wie ich es wagen könne, mich hier zu verspäten! Sollte das noch einmal passieren, würde er meinen Vertrag vor meinen Augen in tausend Stücke zerreißen. Dieses eine Mal kam ich mit einer 50-DM-Strafe davon. Natürlich war ich von nun an überpünktlich.
Erst Jahre später dankte ich Jupp Heynckes für diesen knallharten Einstieg in den Profifußball. Er wusste ganz genau, dass mir, dem doch eigentlich so Talentfreien, nur der pure Drill helfen würde, um mich stark zu machen. Härte zu mir selbst und zu den Gegenspielern, ein eiserner Wille, Leidensfähigkeit im Grenzbereich – die Stärken, die mich später zum Stamm- und Nationalspieler werden ließen, lassen sich alle auf das Trainingslager in Schöneck zurückführen. Als sich nach einer Woche das schwere Eisentor wieder öffnete und ich erstaunlicherweise noch gerade gehen konnte, wusste ich, was ich meinem Körper alles zumuten konnte.
Ich war nun mittendrin im bunten Fußballzirkus, beobachtete die Bundesligastars beim Training und an den Spieltagen. Von uns Oberligaspielern aus der zweiten Mannschaft wurde erwartet, bei jedem Heim- und teilweise auch jedem Auswärtsspiel im Stadion anwesend zu sein. Nichts lieber als das! Wie ein Student seine Bücher studierte ich die Bewegungen und das Spiel der Profis auf dem Rasen. Einem Schwamm gleich sog ich alle Eindrücke in mich auf. Wie hatte sich der Linksverteidiger beim Gegenangriff verhalten, wie der Rechtsverteidiger beim Vorstoß in die Offensive? Wann griffen die Defensivspieler den Gegner an, wann brauchte es eine Grätsche, wann reichte ein einfacher Bodycheck? In der Oberliga und im Training versuchte ich dann mein Wissen in der Praxis anzuwenden – meinen persönlichen Erfolgen konnte ich in diesem ersten Jahr beim Wachsen zusehen. Gelegenheiten dafür hatte ich genug: Zweimal am Tag trainierte ich mit der ersten Mannschaft, abends dann noch mit den Amateuren. Unter der Woche spielte ich in der damals noch existierenden Nachwuchsrunde – eine Liga für U-23-Spieler und etablierte Profis, die nach Verletzungen wieder langsam Spielpraxis sammeln sollten –, am Wochenende lief ich für Borussia II in der Oberliga West auf. Mein Leben bestand nur aus Fußball. Wie ein Irrer spulte ich Trainingseinheiten und Spiele ab, nachts lag ich im Bett und ließ die Erlebnisse des Tages noch einmal vor meinem geistigen Auge ablaufen. Ganze Spielszenen spukten wie Kurzfilme durch meinen Kopf.
Für Jupp Heynckes war ich bald zu einer Art Ziehsohn geworden. Das überstandene Trainingslager hatte ihn noch weiter in seiner Ansicht bestärkt, dass man aus mir einen anständigen Bundesligafußballer würde formen können. Also ließ er mir eine spezielle Form der persönlichen Betreuung zukommen, für die ich ihm noch heute dankbar bin: Morgens vor dem Training schickte er mich für eine halbe Stunde an die Ballwand, mit links, mit rechts, mit der Innenseite, mit dem
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