Uli Borowka - Volle Pulle: Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker (German Edition)
wurde immer schlechter. Wenn Schiedsrichter Georges Sandoz das Spiel abbrechen würde, wäre das eine Katastrophe. Schließlich hatten wir an diesem Tag die Chance auf ein echtes Fußballwunder. »Ölfässer«, brüllte ich durch die weiße Wand in Richtung Ersatzbank, »ihr müsste Ölfässer vor die Westkurve stellen und anzünden!« Das war angeblich ein probates Mittel gegen den Nebel, hatte ich irgendwann mal im Fernsehen gesehen. Ich war nicht der Einzige, der hektisch Ideen über den Platz schrie, aus allen Mannschaftsteilen wurden die Hausmittel gegen Nebel gebrüllt, bloß: Das half alles nichts. Der Nebel blieb. Und mit ihm die Gewissheit, dass all unsere Bemühungen nichts wert waren, sollte sich der Unparteiische für einen Abbruch entscheiden. Nein, Sandoz ließ weiterspielen, guter Mann! Und wir spielten uns in einen Rausch. Dem 4:1 von Gunnar Sauer folgten zwei weitere Tore von Kalle Riedle und Manni Burgsmüller in der Verlängerung, das Wunder war so gut wie geschafft – wenn da nicht der erneute Anschlusstreffer der Russen gewesen wäre. 2:6 in der 111. Minute. Auf der Bank sah ich Otto Rehhagel förmlich in sich zusammensacken. Auch meine Mitspieler waren verzweifelt, sie gingen davon aus, dass wir mit diesem Spielstand ausgeschieden sein mussten. Jonny Otten jammerte: »Jetzt ist alles vorbei!« Ich rechnete kurz nach. So ein Quatsch! »Es reicht, es reicht«, rief ich wie von Sinnen und erlöste damit unsere gesamte Mannschaft. Vor Freude heulend fielen wir uns in die Arme, das Spiel war vorbei. Wir hatten ein 1:4 in ein 6:2 umgewandelt. Ein Wunder im Nebel. Ein Wunder von der Weser!
Auch wenn wir anschließend erst im Halbfinale denkbar knapp mit 0:1 und 0:0 gegen Bayer Leverkusen aus dem Wettbewerb flogen: Die Bedeutung dieses Spiels für die zukünftigen Erfolge von Werder Bremen kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Diese Mannschaft, dieser Trainer und letztlich dieser gesamte Verein wussten nach den Spartak-Spielen ganz genau, was in 90 oder sogar 120 Minuten alles passieren kann. Was in einem einzigen Fußballspiel möglich ist. Wie auch bei meinen Mitspielern brannte sich in meinem Schädel der Glaube an die Fähigkeit ein, Unmögliches möglich machen zu können. Das klingt kitschig, aber wann soll man davon überzeugt sein, wenn nicht nach so einem Spiel? Das Fundament für die Werder-Wunder-Serie war nach dem 6:2-Sieg jedenfalls gelegt.
Was den DFB-Pokal betraf, machen wir es besser kurz: Im Halbfinale verloren wir mit 0:1 gegen Eintracht Frankfurt. Weil Frankfurts Uli Stein hielt wie der Teufel. Und weil Schiedsrichter Dieter Pauly die wahrscheinlich schlechteste Leistung seiner Karriere ablieferte. Nach Spielen, die man knapp verliert, sucht man als Fußballer ja häufig die Schuld beim Schiedsrichter, ich will mich da gar nicht ausnehmen. Aber bei jenem Halbfinale bin ich mir doch sehr sicher, dass wir mit einem anderen Unparteiischen auf dem Platz souverän gewonnen hätten. Dieter Pauly hatte seinen Ruf danach jedenfalls wett, zumindest in Bremen. Noch jahrelang wurden im Weserstadion Schiedsrichter nach vermeintlichen Fehlentscheidungen mit »Pauly! Pauly!«-Rufen geschmäht …
Zeit für die große Staatstrauer hatten wir keine. Zum Glück gab es ja noch die Meisterschaft. Und die machten wir bereits am 31. Spieltag, einem Dienstag, klar. In Frankfurt reichte ein 1:0-Erfolg durch ein Tor von Kalle Riedle – auf der Anzeigetafel im Waldstadion sahen wir das Ergebnis unserer Verfolger aus Köln aufleuchten: 0:3 gegen den HSV. Ausgerechnet die Hamburger hatten uns die nötige Schützenhilfe geleistet. Danach gab es kein Halten mehr. Wir Spieler fingen unseren Trainer ein, Sekunden später lag bereits ein ganzer Klumpen Bremer auf dem armen Otto. Werder Bremen – Deutscher Meister 1988! Was für ein geiles Gefühl! Der erste Titel meiner Karriere. Das musste natürlich begossen werden. Wir flogen nicht gleich zurück nach Bremen, sondern blieben noch eine Nacht im Aukamm-Hotel in Wiesbaden. Schlafen? Natürlich nicht. Viel zu viel Champagner, Bier und Schnaps schüttete ich in meinen Körper, als dass ich heute noch exakte Erinnerungen an jene Nacht hätte. Vielleicht ist das auch besser so. Was ich noch weiß: Am nächsten Morgen, die Sonne ging gerade auf, hockte ich auf einem Stuhl außerhalb des Hotels. Mit dem Rücken lehnte ich an der Glasfassade des Frühstückssaals, in meiner Hand eine halbleere Flasche Bier. Die ersten Sonnenstrahlen fielen in mein
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