Uli Borowka - Volle Pulle: Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker (German Edition)
waren? Mir war das vollkommen egal, und wenn nur der Platzwart auf der Tribüne gesessen hätte. Das hier war das erste (und auch letzte) internationale Finale meiner Karriere, vielleicht der größte Tag meiner Laufbahn! Je näher der Anpfiff heranrückte, desto mehr wurde mir das auch bewusst. Mit zitternden Knien zog ich mich in der Kabine um, die historische Bedeutung vernebelte mir so die Sinne, dass ich fast vergaß, mir den Trauerflor über den Arm zu ziehen: Einen Tag zuvor waren 15 Menschen bei einer Stadionkatastrophe in Bastia ums Leben gekommen. Otto Rehhagel schickte uns auf den Rasen zum Warmmachen. Ich vermisste meinen Kumpel Olli Reck auf dem Platz, kurz vor dem Endspiel hatte er sich an der Schulter verletzt, an diesem Tag musste sein Ersatzmann Jürgen Rollmann die Kohlen aus dem Feuer holen. War Rolli dazu in der Lage? War er, gemeinsam mit uns Abwehrspielern, stark genug, um dem Druck standzuhalten? Meine Knie zitterten noch immer, als wir für eine letzte Besprechung zurück in die Kabinen trabten.
Otto stand an der Tür, die Arme verschränkt. Er sagte nichts, er brauchte auch nichts sagen. Ich schloss die Augen und versuchte mich zu konzentrieren, mich einzig und allein auf dieses Spiel zu fokussieren. Zwei Minuten lang war es mucksmäuschenstill in unserer Kabine. Zwei Minuten absolute Stille in einem Raum voller Fußballspieler. Wie Teilnehmer einer Sekte fühlten wir uns alle irgendwie auf übersinnliche Art und Weise miteinander verbunden. Solch einen Moment der höchsten Konzentration habe ich nur dieses eine Mal in meinem Leben erlebt, an diesem 6. Mai 1992 in den Katakomben des Lissaboner »Stadion des Lichts«. Der Pfiff des Schiedsrichters beendete diesen magischen Augenblick. Die Show begann.
Heute nahezu ausgestorben, aber damals ziemlich in Mode war folgende Anstoßvariante: Der Ball wird vom Mittelkreis nach hinten geschoben, dort steht der Spieler mit dem härtesten Schuss und bolzt den Ball nach vorne, um damit den ersten Angriff des Spiels »einzuleiten«. Auch diesmal wählten wir diese schnelle Version des kick and rush. Und wer bekam den ersten Ball? Natürlich, der Kerl mit den zitternden Knien! Ich zog voll durch und trat den Ball in den Körper meines Gegenspielers, nun war es der AS Monaco, der den ersten Angriff starten durfte! Panisch klärte ich den Ball zur Ecke, draußen spürte ich den Zorn von Otto Rehhagel. Wenn jetzt noch das Gegentor fallen würde, dann war ich geliefert! In Gedanken sah ich schon, wie die Auswechseltafel an der Seitenlinie die Nummer sechs anzeigte … Jürgen Rollmann faustete die Ecke aus der Gefahrenzone. Endlich hatte ich mich im Griff. Das Spiel konnte auch für mich beginnen.
Monaco spielte richtig stark. Immer wieder rollten die Angriffe der Franzosen in unseren Strafraum, selten schafften wir es, das Heft in die Hand zu nehmen. Nach gut einer halben Stunde musste Otto Thomas Wolter auswechseln, für ihn kam Thomas Schaaf aufs Feld. Wochenlang hatte Thomas nicht gespielt, doch gegen Monaco machte er ein großartiges Spiel. Die 41. Minute. Weit in unserer eigenen Hälfte bekamen wir einen Freistoß zugesprochen. Ich drosch den Ball nach vorne, an der Strafraumkante klatschte die Kugel auf den Kopf von Wynton Rufer und von dort Richtung Elfmeterpunkt. Klaus Allofs, unser Oldie, der Mann, der vom medizinischen Standpunkt aus eigentlich gar nicht spielberechtigt war, reagierte am schnellsten. Hier zeigte sich die Klasse von Klaus: Mit einer schnellen Seitwärtsbewegung legte er den Ball ins Tor. 1:0! Und das war ja noch nicht alles: Wynton Rufer erzielte nach 55 Minuten das zweite Tor. Jetzt mussten wie die Führung nur noch über die Zeit retten. 35 Minuten harte Maloche und es war vollbracht: Werder Bremen – Europapokalsieger 1992!
Unsere Party begann noch auf dem Platz, wurde dann in der Kabine und schließlich im Hotel fortgeführt. Und als ich schon längst jenseits von Gut und Böse war – so gegen halb drei Uhr morgens –, erinnerte sich plötzlich Dieter Eilts an unser großes Pokalversprechen: Glatze schneiden beim Europacup-Triumph, so war es ausgemacht! Selbstverständlich stellte ich mich der Verantwortung, Dieter holte den Rasierer raus und scherte mich wie ein Schaf im Frühjahr. Die Nassrasur übernahm ich selbst. Als ich schließlich oben rum nackt war, schnappte ich mir den Rasierer und rief: »Wer ist der Nächste?« Und was passierte? Meine Kollegen zogen den Schwanz ein und machten sich vom Acker! Mit dem
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