Ulysses Moore – Das Buch der Traumreisenden
erhofft, nähergekommen war.
Anita schlug das Buch zu und dann erneut auf. Zum xten Mal ging sie es durch.
Der Rahmen von Seite zwei war leer, genau wie der neben der brennenden Burg. Und der letzte Rahmen … Nein, der nicht. Anitas Herz setzte einen Schlag aus. Die verängstigte Frau blickte sie aus rot geränderten Augen an.
Zaghaft streckte Anita die Hand nach der Zeichnung aus, aber es dauerte, bis sie den Mut fand, sie zu berühren. In dem selben Augenblick, in dem ihr Finger das Papier streifte, war es ihr, als sei sie plötzlich von fremden Düften und Geräuschen umgeben.
Dann hörte sie die Stimme der Frau. »Hilf mir!«, flehte sie. »Hilf mir!«
Anita atmete tief durch. »Wer bist du?«
»Ich bin Ultima, die Letzte … Und ich brauche deine Hilfe.«
»Die Letzte wovon?«
»Ich bin die letzte Bewohnerin der Sterbenden Stadt.«
Die Sterbende Stadt, dachte Anita, und mit einem Mal kam ihr wieder das Gedicht des Übersetzers in den Sinn. »Verliere ich den Weißen bei der Hakeneiche, kann ich bei den Zwillingstannen Hilfe wiederfinden …«
»Wo bist du?«, fragte Anita.
»Ich verstecke mich.«
»Bist du in Gefahr?«
»Ja. Und inzwischen bin ich eine alte Frau.«
»Warum hast du solche Angst?«
»Weil ich immer noch hier lebe. Und du? Wer bist du? Bist du Morices Tochter?«
Wieder hatte Anita das Gefühl, als setze ihr Herz aus. »Nein«, flüsterte sie kaum hörbar. »Ich bin nicht seine Tochter.«
»Aber wer bist du dann?«
»Ich bin Anita. Anita Bloom.«
Die Zeichnung der Frau schien zu zittern, als würde der Wind ihre Umrisse verwehen.
»Was geschieht mit dir?«
»Ich muss jetzt gehen.«
»Wohin gehst du denn?«
Die Geräusche, die Gerüche und die Stimme, die bis jetzt Anitas Kopf erfüllt hatten, wurden plötzlich schwächer.
»Er ist gekommen.«
»
Wer
ist gekommen?« Anita spürte, dass sie den Kontakt verlor. Sie hob die Hand und sah, wie das Bild der Frau verblasste, als würde das Papier des Buchs es verschlingen. Dann hörte sie hinter sich das Geräusch eines Schlüssels, der ins Schloss gesteckt wurde.
Augenblicklich schlug Anita das Notizbuch zu, versteckte es wieder ganz hinten in der Schublade und lief in den Flur, um ihre Mutter zu begrüßen.
Nachdem sie gemütlich zu Abend gegessen hatten und Anita mit dem Spülen begann, erzählte ihre Mutter, dass sie mit Anitas Vater telefoniert hatte.
»Er wollte wissen, ob wir für das nächste lange Wochenende schon Pläne haben.«
Anita ließ warmes Wasser in das Spülbecken einlaufen. »Ich habe noch nichts vor.«
Ihre Mutter holte aus einer Schublade Frischhaltefolie für das Gemüse, das beim Abendessen übrig geblieben war. »Wir könnten ihm vorschlagen, uns besuchen zu kommen.«
»Das wäre toll«, freute sich Anita. Sie hatte ihren Vater schon seit über einem Monat nicht mehr gesehen.
Mrs Bloom stellte das Gemüse in den Kühlschrank. »Oder aber du fährst zu ihm.«
»Und du?«
»Ich bin mit der Arbeit im Rückstand«, erklärte ihre Mutter seufzend. »Ich kann jetzt nicht einfach hier weg.«
Ganz offensichtlich wollte ihre Mutter ihre Arbeit an der Ca’ degli Sgorbi nicht unterbrechen und fand es besser, wenn Anita allein nach London flog.
»Ich werde es mir überlegen«, sagte Anita.
Mrs Bloom lächelte und ging hinaus, um noch etwas zu erledigen.
Als Anita mit dem Geschirrspülen fertig war und gerade die Arbeitsfläche abwischte, nahm sie plötzlich ein eigenartiges Geräusch wahr.
Es klang wie ein leises, aber beharrliches Kratzen und kam vom Küchenfenster. Anita drehte sich um und sah, dass ihr kleiner Kater aufs Fensterbrett gesprungen war und sich mit seinen Vorderpfoten an der Scheibe abstützte. Dabei machte er einen Buckel und sein Fell war gesträubt.
»Mioli, komm da runter!« Anita wollte den Kater auf den Arm nehmen und streicheln, aber er wand sich aus ihrem Griff und sprang fauchend auf den Fußboden hinunter.
»Was ist denn mit dir los?«
So aufgebracht hatte sie Mioli noch nie gesehen. Sie beugte sich zu ihm, doch er flitzte mit aufgestelltem Schwanz aus der Küche hinaus.
»Verrückter Kater …« Anita schüttelte den Kopf. Sie wollte eben die Vorhänge vor dem Küchenfenster zuziehen, als sie den dunkel gekleideten Mann entdeckte, der wie ein bedrohlicher Schatten in der Nähe des Hauses lauerte.
Anita erkannte ihn sofort. Es war der Mann mit der schwarzen Melone und dem Regenschirm.
Er stand reglos am Kanal und sah zu dem Fenster hinauf, an dem sie stand.
»Das darf
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