Ulysses Moore – Das Buch der Traumreisenden
noch nicht, was hier auf mich wartete.« Jetzt schaute Nestor Anita an, als überlege er, wie viel er in ihrer Gegenwart erzählen konnte. »Aber ich stelle mir gerne vor, dass mein Vater es bereits wusste. Und dass er diesen Ort als Wohnort wählte, weil er ihn schützen und bewahren wollte. Aber darum geht es jetzt ja eigentlich nicht.«
Anita, Rick und Jason sahen ihn gespannt an. Sie erwarteten offenbar, dass er nun endlich erklären würde, worum es denn dann ging.
»Es geht darum«, sagte Nestor und räusperte sich, »dass unter den Büchern, die wir aus London herbrachten, damit mein Großvater sie nicht verbrennen konnte, ein Buch war, das genauso aussah wie dieses hier.« Nestor blätterte schmunzelnd in dem Büchlein herum und schlug es dann schnell wieder zu. »Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Ich las als Kind gerne darin. Morice Moreau. Die Aquarellbilder, die Zeichnungen und vor allem die unverständlichen Zeichen: Ich liebte sie alle. Nacht für Nacht sann ich über ihre Bedeutung nach, und ganz allmählich begann ich, sie zu verstehen und zu entschlüsseln. Und ich fand nach und nach heraus, was das für ein Buch war, das mich bis in meine Träume hinein beschäftigte.«
Rick hielt die Spannung bald nicht mehr aus. »Also?«
»Ach, es ist sehr einfach.« Nestor setzte sich schmunzelnd wieder. »Es ist ein Buch der Traumreisenden, mit dessen Hilfe man die Sterbende Stadt finden kann.«
»Ich verstehe nicht«, warf Rick ein. »Ich verstehe jetzt gar nichts mehr. Du hattest eine eigene Ausgabe dieses Buchs?« Nestor nickte. »Und jetzt hast du sie nicht mehr?«, hakte Rick nach.
»Ich habe sie gesucht. Aber sie ist nicht da. Das Büchlein war immer in der Bibliothek, ich weiß auch noch genau wo. Aber …«
»Und wo kann es nun sein?«, fragte Jason.
»Das weiß ich nicht. Ich kann mich nicht erinnern, jemandem das Notizbuch geliehen zu haben.«
»Und auch in Ihrer Ausgabe waren diese seltsamen Zeichen?«, erkundigte sich Anita.
»Das war ja das Tolle«, antwortete Nestor. »Durch Morice Moreau entdeckte ich die Bildzeichen der Scheibe von Phaistos. Und als ich begann, das Buch für Traumreisende zu schreiben, habe ich es einfach so gemacht wie er.«
»Aber warum sprichst du immer von
Traumreisenden?
«, fragte Jason.
»Weil das die einzig treffende Bezeichnung ist.«
»Warte, warte …«, unterbrach Rick ihn, der immer verwirrter zu werden schien. »Jetzt kann ich dir schon wieder nicht folgen. Ich bin kein Traumreisender. Ich war wirklich an diesen Orten. Ihr wisst alle, welche ich meine.«
Nestor baute sich neben dem rothaarigen Jungen wie ein Lehrer neben einem besonders dickköpfigen Schüler auf. »Du hast recht, Rick. Du bist
wirklich
an jenen Orten gewesen. So wie auch die anderen Reisenden.«
»Und genau deshalb sind sie kein Produkt der Fantasie«, beharrte Rick auf seinem Standpunkt.
»Ein Traumreisender ist ja auch kein Reisender, der nur so tut, als würde er reisen«, erwiderte der Gärtner.
»Was ist er denn dann?«, fragte Anita.
»Er ist ein Reisender, der
wirklich
an einen erträumten Ort reist.«
Rick klappte der Unterkiefer herunter. »Und wie soll das bitte funktionieren?«
»Indem er zum Beispiel durch eine Tür zur Zeit geht«, schlug Jason vor, der mit Nestors Logik keine Probleme zu haben schien.
Rick sah ihn verwundert an und wandte sich dann wieder Hilfe suchend an Nestor. Er verstand es immer noch nicht. »Ein erträumter Ort … ist für mich … ein Ort, den es nicht gibt«, sagte er langsam.
»Diesen Denkfehler machen die meisten. Einen erträumten Ort kann es wirklich geben«, erwiderte Nestor. »Nur nicht für alle.«
»Ihr veräppelt mich, oder?« Rick klang verärgert.
Anita lächelte ihn mitfühlend an. Sie konnte nachempfinden, dass er verwirrt war, aber inzwischen verstand sie, was Nestor meinte. Er beschrieb, was sie an diesem Tag erlebt hatte. Sie selbst war an diesem Tag an einen der erträumten Orte gereist.
Nestor suchte händeringend nach den richtigen Worten. »Was muss ein Traumreisender auf jeden Fall besitzen?«
»Keine Ahnung. Einen Koffer?« Rick zog die Schultern hoch.
Der Gärtner lachte. »Nein, er muss Vorstellungskraft besitzen. Und was ist Vorstellungskraft?«
»Fantasie?«
»Nein, Vorstellungskraft ist die Kraft, sich etwas vorzustellen … Etwas in Bewegung zu setzen, das in einem drin ist. Ein Traumreisender kennt einen Ort, an dem er ankommen will, noch bevor er einen Schritt vor die Tür gesetzt hat. Er
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