Ulysses Moore – Das Buch der Traumreisenden
Anspielung, die ihm auch nur im Entferntesten als Frucht der Vorstellungskraft erschien (ein Wort, das er nicht einmal aussprechen konnte, so sehr hasste er es) … Wann immer er auf einen solchen Auswuchs der Fantasie stieß, kräuselte sich seine Nase wie die eines Spürhundes und der Füllfederhalter in seiner Hand begann ein Eigenleben zu entwickeln.
An diesem Londoner Spätnachmittag aber arbeitete der meistgefürchtete Londoner Kritiker nicht, sondern trommelte mit den Fingern auf der kalten Metallplatte seines Schreibtischs herum.
Es ging um eine unerledigte Angelegenheit.
Eine nicht tolerierbare Erschütterung seiner Glaubwürdigkeit.
Ein Rätsel.
Langsam bewegte er seine Finger auf Morice Moreaus Notizbuch zu und legte sie schließlich darüber. Es war ein hübsches kleines Buch, handlich, aus wertvollen Materialien hergestellt und durchgehend illustriert. Ein Buch, das es verdient hätte, in eine angesehene Sammlung aufgenommen zu werden.
Aber der Inhalt … Die Anleitung für eine Reise in ein erträumtes Dorf.
Das Schlimmste, was er sich überhaupt vorstellen konnte. Es müsste sofort verbrannt werden.
Wenn … Wenn da nicht diese Seiten wären. Diese Seiten, die sich veränderten. Ohne erkennbaren Grund.
»Es muss doch eine Erklärung dafür geben«, sagte Voynich halblaut vor sich hin und rieb sich das rechte Auge, ohne die Brille abzunehmen.
Nach dieser Erklärung aber hatte er die letzten dreißig Jahre vergeblich gesucht. Er hatte seine Mitarbeiter ausgesandt, allesamt fähige Männer, die in allen Städten der Welt nach Morice Moreau fahndeten. Jeder kleinste Hinweis, jeder Satz, jedes Wort konnten helfen, sich auf dieses verhasste Buch endlich einen Reim machen zu können. Und auf diese Worte, die aus den Seiten in seine geordnete Welt eindrangen.
Es ist Quatsch! Es ist alles nur Quatsch, sagte sich Malarius Voynich. Aber das redete er sich nun schon seit Jahrzehnten ein. Seit dem Tag, an dem das vermaledeite Buch in seinen Besitz gelangt war und er das erste Mal darin geblättert hatte.
Er öffnete eine der zahlreichen Schubladen seines Schreibtischs, auf der vorne fein säuberlich der Buchstabe »S« eingraviert war. Er nahm einen Stift mit einer roten und einer blauen Spitze heraus.
Aus der Schublade mit dem »B« holte er einen karierten Block und schrieb ganz oben auf das erste Blatt: »Jason Covenant. Kilmore Cove«.
Dann unterstrich er den Ortsnamen und betrachtete ihn aufmerksam.
Kann das sein?, fragte er sich.
In der Schublade mit dem Buchstaben »E« fand er in der Mappe, die er für seinen Freund Eco angelegt hatte, ein Protokoll ihres letzten Telefongesprächs.
»Zwei Teenager …«, las Malarius Voynich. »Notizbuch von Morice Moreau, Anweisungen für die Reise nach Kilmore Cove.«
Er hatte sich nicht geirrt. Es war derselbe Name.
Kilmore Cove.
Er sollte einen Blick auf die Listen werfen.
Er griff nach dem Telefon und wählte eine Nummer. Bald ließ sich am anderen Ende der Leitung eine zittrige Stimme vernehmen
»Hallo, Pirès. Ist schon jemand eingetroffen?«
»Guten Abend, Doktor Voynich«, erwiderte der alte Oberkellner des Klubs der Brandstifter. »Bis jetzt noch nicht, fürchte ich, Sir.«
»Ausgezeichnet. Dann mache ich mich auf den Weg. Bereiten Sie bitte einen Rhabarbertee für mich vor.«
»Sehr wohl, Sir. Selbstverständlich wie immer ohne Zucker.«
Malarius Voynich antwortete nicht. Er betätigte den Hebel seines Stuhls, der daraufhin nach unten schoss. Eilig sprang Voynich vom Sitz herunter und suchte in seinem Büro Regenmantel und Schirm zusammen.
Einige Minuten später klopfte er an die Tür des Klubs der Brandstifter. Flüchtig begrüßte er Pirès und reichte ihm Regenmantel und Schirm, um sofort darauf den Großen Salon zu betreten – denselben Raum, in dem sich früher der Klub der Traumreisenden getroffen hatte.
Die Luft hier war erfüllt von einem unnatürlichen Schweigen und demselben abgestandenen Zigarrengeruch wie im Büro des Kritikers.
Auf den zehn, von Sesseln umgebenen Tischen lagen zahlreiche Bücher sowie die Unterlagen von Projekten, an denen gerade gearbeitet wurde. Messingplaketten an den Wänden verkündeten die wichtigsten Ziele, denen sich der Klub der Brandstifter verschrieben hatte: »Einfache Dinge komplizieren«, »Neues verreißen«, »Gefährliche Personen unglaubwürdig machen«, »Landschaften zerstören«, »Den schlechten Geschmack fördern«.
Ohne vor einem der Schilder zu verweilen, steuerte Voynich seinen
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