Ulysses Moore – Die Stadt im Eis
den Werkzeugbrettern, die Leonard an einer Wand angeschraubt hatte, sah die Taucheranzüge, Sauerstoffflaschen und Schwimmflossen durch und schaute dann auch noch hinter einem großen, verrosteten Kompressor nach. Schließlich hob er den schweren Deckel einer Holztruhe an und fand endlich das Gesuchte: die Harpunengewehre.
Er nahm eins heraus, legte die Harpune in die dafür vorgesehene Rille ein und betätigte den Auslöser. Mit einem schwachen Zischen wurde die Harpune freigege ben und landete wenige Meter von seinen Füßen entfernt am Boden. Das Gewehr war nicht geladen.
Er zog die Harpune an dem Sicherungsseil zu sich her und probierte die anderen Gewehre aus. Nur zwei ent hielten genügend Druckluft. Er legte sie beiseite und wählte zwei weitere aus, die er an den Kompressor lehnte. Nachdem er nachgesehen hatte, ob das Luftventil richtig eingestellt war, schaltete er ihn ein. Hustend sprang die alte Maschine an. Bald erfüllte ihr lautes Brum men den Raum. Jason lud ein Druckluftgewehr nach dem anderen, bemüht, dabei ebenso präzise und sorgfältig zu arbeiten, wie er es von Rick kannte.
Als er fertig war, suchte er abermals in der Truhe herum, bis er einen Karton mit Harpunenspitzen gefunden hatte. Leonard besaß davon die verschiedensten Typen: abgerundete mit Pfeilspitzen und solche mit zwei oder drei Zacken. Einige davon waren so spitz und scharf wie Messer.
Jason wählte die schärfsten aus. Dabei lief ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunter, an dem dieses Mal aber nicht die eisige Zugluft schuld war, die von der verschlossenen Tür her kam. Es war eine Sache, im Meer zu tauchen und Fische zu jagen. Und es war eine ganz andere Sache, sich auch nur vorzustellen, diese Harpunenspitzen gegen Menschen einzusetzen.
Vielleicht ist das doch keine gute Idee, überlegte er. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass Bowen ja eine Pistole hatte, und er beschloss, mit seinen Vorbereitungen fort zufahren.
Als er den Kompressor ausgeschaltet hatte, breitete sich im Keller des Leuchtturms eine seltsame Stille aus. Wachsam wie ein Jäger sah Jason sich in dem Raum um. Er legte sich die Tragriemen von drei Harpunengeweh ren über die Schulter und nahm das vierte in die Hand. Dann ging er zu der verschlossenen Tür hinüber und legte das Ohr an ihre vereiste Verkleidung.
Seine Haut klebte am Holz wie an gefrorenem Metall. Er lauschte konzentriert. Manchmal kamen von der anderen Seite einer Tür zur Zeit Geräusche. Manchmal klopfte jemand.
»Jaasooon«, rief eine ferne Stimme. Sie war so weit weg, dass er sie nur ganz schwach hörte. Instinktiv packte er das Gewehr fester, das er in der Hand hielt.
»Jaasooon«, rief die Stimme wieder. Dieses Mal schien sie näher zu sein, und … sie kam nicht hinter der Tür her, sondern von der Treppe.
Der Junge drehte sich um, ging zur Treppe und sah hoch. Die Eingangstür des Leuchtturms wurde aufgeris sen.
»Anita!«, rief er hoch. »Ist alles in Ordnung?«
»Die Stute benimmt sich so komisch. Sie dreht völlig durch«, erwiderte das Mädchen.
Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte Jason die Treppe hoch. Anita zeigte zum Stall hinüber, in dem Leonards Stute ununterbrochen wieherte und mit den Hufen die Wände ihrer Box bearbeitete.
»Was ist denn mit der los?«, fragte Jason.
»Keine Ahnung. Ich habe nur das gemacht, was du gesagt hattest. Auf einmal …«
Jason lief zum Stall. Dabei fiel sein Blick auf das Meer. Am Horizont hatte der Himmel jenen dunkelblauen Farbton angenommen, der ein Unwetter ankündigt. Dro hend krachte eine riesige Welle gegen die Wellenbrecher vor dem Hafen von Kilmore Cove.
Ein schlechtes Zeichen, dachte Jason. Wirklich ein schlechtes Zeichen.
Tommaso Ranieri Strambi spürte, wie ihn etwas in die Wange zwickte. Er öffnete die Augen und sah eine Krabbe vor sich. Eine kleine rote Krabbe, die sich nun daranmachte, mit ihren Zangen Tommasos Nase zu untersuchen. Der Junge musste noch ein paar Male die Augen zu- und wieder aufmachen, bis ihm klar wurde, dass das jetzt tatsächlich geschah. Er hob den Kopf und die kleine Krabbe flitzte beleidigt davon.
Ein Strand, dachte Tommaso. Ich bin an einen Strand gespült worden.
Er stand auf. Besser gesagt versuchte er aufzustehen, versank aber augenblicklich in einer weichen, feuchten Mischung aus Sand und feinem Kies. Die Wellen umspiel ten seine Knöchel.
Ihm war kalt. Er hatte beide Schuhe verloren und war von Kopf bis Fuß vollkommen durchnässt.
Aber wo war er gelandet?
Er machte ein paar
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