Ulysses Moore – Die Stadt im Eis
sie in der Eile zu fassen bekam, und vermied so, durch die Wucht der Beschleunigung vom Motorrad gerissen zu werden.
In der Hoffnung, dass es rechtzeitig weit genug offen stehen würde, hielt Jason auf das Tor zu. Am Rande ihres Blickfelds zischten Schrotthaufen und Reifenstapel vor bei.
»WIR SCHAFFEN ES! WIR SCHAFFEN ES! WIR SCHAFFEN ES!«, schrie Jason, als müsse er in höchster Lautstärke ein Mantra aufsagen. Während Anita mit weit aufgerissenen Augen auf das Tor starrte, das näher und näher und näher kam …
Sie kniff sie zu, als sie dachte, im nächsten Augenblick gegen die Gitterstäbe zu knallen. Und als sie sie wieder aufmachte, hatten sie es tatsächlich geschafft.
Sie schaute über die Schulter und sah nur eine schwarze Abgaswolke. Und inmitten der Wolke ein Ungeheuer, das sie wild bellend verfolgte. Anita drückte sich enger an Jasons Rücken. Sie erreichten die Straße. Jason fuhr in Richtung Meer und bog dann auf die Küs tenstraße ein, die zum Leuchtturm führte. Das bellende Monster verfolgte sie noch immer. Schilder, Häuser und die Einmündungen von Straßen flitzten an ihnen vorbei.
In der ersten engeren Kurve verlagerte Jason zu spät sein Gewicht und das Motorrad fuhr geradeaus und haar scharf an der Bande vorbei.
» DU HATTEST GESAGT, DU KANNST FAHREN!«, schrie Anita. Gleich darauf kam die nächste Kurve.
Doch dieses Mal nahm Jason das Gas zurück, legte sich in die Kurve und fuhr sie gekonnt aus. Bei der Ausfahrt aus der Kurve gab er so viel Gas, wie der Motor hergab. »Ist er noch da?«, schrie er über die Schulter und achtete dabei darauf, den Lenker nicht zu verreißen.
Anita drehte den Kopf. »Ja«, antwortete sie auf Jasons Frage. Hinter ihnen lagen die ersten Haarnadelkurven der Küstenstraße und die Häuser am Ortsausgang wurden immer kleiner. Reagan war nur noch ein dunkler Punkt, aber er hatte noch nicht aufgegeben.
»Leg dich mit in die Kurve«, befahl Jason, bevor die nächste kam. Sie bewältigten sie wie durch ein Wunder: Die Maschine lag so tief auf der Seite, dass das Metall am Straßenbelag entlangkratzte und Funken sprühte. Als sich das Motorrad wieder aufrichtete, lag Kilmore Cove weit hinter ihnen, und die Küstenstraße wurde steiler. Der Fahrtwind schlug ihnen kalt ins Gesicht.
In der nächsten Geraden schaute sich Anita noch ein mal um, aber da war kein bellender schwarzer Punkt mehr. »Er ist weg!«, rief sie, sah aber vorsichtshalber noch ein paar Male über die Schulter, bis sie schließlich einen Seufzer der Erleichterung von sich gab. »Er ist nicht mehr hinter uns her! Fahr langsamer!«
Jason drehte den Gasgriff zurück und genehmigte sich ebenfalls einen Blick nach hinten. »Wir haben ihn abgehängt!«, rief er erfreut.
Bald darauf erreichten sie die letzte Kurve vor dem Leuchtturm. Von hier bog ein Kiesweg ab, der zu dem Felsplateau führte, auf dem sich der Leuchtturm erhob. Jason schaltete den Blinker ein, verlangsamte das Tempo und lenkte die Maschine auf den Kiesweg.
Eine plötzlich aufgekommende Windbö ließ kleine Staubstrudel aufsteigen, blähte die Segel der Boote, die hinausgefahren waren, um draußen auf dem Meer nach Überlebenden zu suchen, und wehte das Wiehern von Leonards Stute zu ihnen herüber.
Jason hielt die Maschine auf der ebenen Fläche zwi schen dem Leuchtturm und Leonards Haus an, gab ihr einen Klaps und sah sehr mit sich zufrieden aus.
Anita zitterten die Beine. »Du bist wirklich ein verant wortungsloser Irrer, Covenant«, sagte sie, ohne ihn loszu lassen, und schmiegte ihre Wange noch enger an seinen Rücken.
Unter dem Leuchtturm, dort, wo sich das aufgewühlte Meer an den Felsen brach, erhob sich eine gewaltige Welle aus Schaum und Gischt.
Kapitel 16
Mit gleichen Waffen
Die Wendeltreppe, die vom Erdgeschoss des Leucht turms in den Keller führte, war kalt und feucht, und der Anstrich an den Wänden ringsum warf Blasen. Jason rannte die Treppe hinunter und in den Raum, in dem Leonard seine Taucherausrüstung aufbewahrte. Der Raum war rund, hatte denselben Durchmesser wie der Leuchtturm und zwei Ausgänge: den zum Treppenhaus, durch den er soeben hineingekommen war, und gegen über davon eine zweite, verschlossene Tür.
Jason war schon oft in diesem kalten Raum gewesen, in dem sein Atem weiße Dampfwölkchen bildete, gleichgültig, wie warm es draußen war. Die sibirische Kälte schien durch die Ritzen der verschlossenen Tür hereinzudringen, unter der sich am Fußboden ständig Reif bildete.
Jason ging zu
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