Um die Wurst (German Edition)
lassen wie früher. Nur dass jetzt keine versammelte Klasse zusah und sich ins Fäustchen lachte. Aber das Gefühl von Demütigung und Groll, das in Belledin aufstieg, war dasselbe.
*
Stark hatte die Fahndung nach Saier rausgegeben und war nach Hause gefahren. »November Rain« von Guns N’ Roses heulte durch die Wohnung.
»November kann auch im Mai sein«, sagte sie zur Bierflasche, ehe sie das goldene Alupapier des Tannenzäpfles auf den Stapel der übrigen legte. Dann wandte sie sich wieder der rotwangigen Frau auf dem Etikett zu. »Alle denken, die Depression käme mit dem Novemberniesel. Blödsinn. Im November fühlen sich alle allein. Sogar die Spießer verwechseln dann ihre heimelige Melancholie mit Depression. Und die teilen sie mit all den anderen Teetrinkern und Vorweihnachtsgebäcklern. Aber die Depression, die teilt man nicht, die trägt man allein zu Grabe. Und deswegen ist der Mai auch viel unerbittlicher als der November, verstehst du? Das Frühjahr zeigt dir, dass du allein bist. Wenn all die anderen, die es nicht sind, verliebt auf den Parkbänken knutschen und gemeinsam in den Rausch torkeln. Während du danebenstehst und dich nicht einmal traust, hinzuschauen, weil dich die Welt als Voyeur und depressiven Müll entlarven könnte, dann ist das härter als zwölfmal November im Jahr. Prost.«
Sie trank und dachte an Daniela Koch. Über der Musik von Guns N’ Roses hörte sie Danielas Stimme voll erzwungener Heiterkeit, die mit einem Mal zu Totengesang geworden war. Was war der Auslöser gewesen, dass sie sich im Beisein einer Polizistin hatte umbringen wollen? Was für ein Schrei sollte das gewesen sein? Was hatte Daniela nicht sagen können, dass sie es mit einem solchen Zeichen brüllen musste?
Stark hatte gleich gespürt, dass in der heilen Welt der Kochs etwas nicht stimmte. Bei jedem Pilcher-Film erging es ihr ebenso. Sie glaubte immer, gleich käme ein Mann mit einer Axt aus dem Schrank gesprungen und köpfte all die Frischverliebten, die sich im Sonnenuntergang Versprechen für die Ewigkeit gaben. Schewtschenko hatte diese Filme geliebt, deswegen hatte sie sie sich auch angesehen. Um bei ihm zu sein, um ihn besser verstehen zu können. Er hatte gewusst, dass es Kitsch war. Verlogen und unerreichbar. Aber er hatte gesagt, dass auch niemand geglaubt hätte, dass er mal in Kaviar und Champagner baden würde, als er in den Plattenbauten Moskaus um jeden Krumen Brot kämpfen musste. Kitsch war erreichbar, man musste nur bereit sein, den Preis dafür zu bezahlen. Manchmal, wenn das Schmalz der Schmonzette die Grenze des Erträglichen längst überschritten hatte, weinte Schewtschenko. Seine Tränen waren echt gewesen, ausgelöst durch die falschen der schlechten Schauspieler. Ein Paradoxon. Das Leben war voll davon. Die Bierflasche schon wieder leer.
Sie nahm keine neue Flasche aus dem Kühlschrank, sondern schob die CD , die Belledin von Killian erhalten hatte, in den Laptop. Das Laufwerk surrte, der Ventilator schnaufte, dann forderte die CD ein Passwort. Sie machte sich daran, es zu knacken.
*
Marlena saß auf dem Sockel des Brunnens vor dem Schuleingang und tippte auf ihrem Handy herum. Als sie Belledin sah, steckte sie das Handy ein.
»Ich suche die Köhler-Brüder. Sie sollen hier irgendwo Nachhilfeunterricht geben«, sagte er.
»Im Chemiesaal. Oberster Stock.«
»Den kenne ich.« Er sah sie an. »Bist du gut in Chemie?«
»Abgewählt. Hab dafür Bio- LK .«
»Verstehe. Ich hatte damals Physik. War aber auch nicht besser.«
Sie nickte und zog ihr Handy wieder raus, um weiterzuschreiben. Belledin beugte sich zu ihr runter.
»Gibt es irgendetwas, das du weißt und mir noch sagen möchtest?«
Marlena sah auf. »Deutsch- LK habe ich auch. Aber da kriegen wir jetzt eine neue Lehrerin. Weil Erik doch tot ist. Das ist scheiße. Bei Erik hatte ich meine fünfzehn Punkte sicher. Jetzt kriegen wir die Engler. Die ist zäh.«
»Dafür lebt sie noch.«
»Das stimmt allerdings. Tut mir leid, ich bin etwas neben der Kappe. Der Tod von Erik ist hart für uns.« Sie sah durch Belledin hindurch.
Er atmete schwer und ging ins Schulgebäude.
Im Chemiesaal hatte man die Bänke ausgetauscht. Belledin hätte gerne nachgesehen, ob seine Schmierereien noch das Holz der Tische zierten. Herzchen und spritzende Penisse hatten sie gekritzelt. Hin und wieder auch einen aufgeschnappten Klospruch und eine linke Parole, die sie nicht verstanden hatten. Generationen von Schülern hatten sich auf den
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