Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
bekamen die schriftliche kriminalpsychologische Bewertung des Erpresserbriefes, die von der Beratergruppe unter Leitung des Polizeipsychologen Stefan S. ausgearbeitet worden war:
Der Brief hat keinen Adressaten. Aufgrund des Gesamtkontextes ist davon auszugehen, dass der Verfasser eine Beziehung zum Opfer hat oder mindestens Kenntnisse über die Familie besitzt. Das Tatziel ist, den Sohn zu entführen. Der Satz, dass es nicht Absicht ist, das Leben der Familie oder des Sohnes zu zerstören, relativiert die schädigenden Konsequenzen für die Familie und spricht das weitere Tatziel der Bereicherung erst nachrangig an. Aus psychologischer Sicht ist dies ein Hinweis auf eine vor der Tat existierende Beziehung zwischen Täter und Opfer. Aus der Beschreibung der Übergabemodalitäten bis: »Ihr Sohn wird …« kann man schließen, dass das Opfer freigelassen wird und somit noch am Leben ist.
Merkwürdig und nicht plausibel ist es, den Übergabeort schon so früh zu benennen. In der Kasuistik ist dies ungewöhnlich. Normalerweise wird der Übergabeort so spät wie möglich genannt, um der Polizei kaum Reaktionsmöglichkeiten zu geben. Ein Problem ist, dass der Täter bereits in seinem ersten Tatschreiben, in dem er die Entführung bekanntgibt, Übergabeort und -zeit nennt. Da sowieso Wochenende ist, kann die mögliche Geldbeschaffung kein Grund sein.
Die Aussage: »Es ist für Sie unter Mithilfe von Polizei o. ä. sicher gut möglich, uns zu überführen. Wir haben jedoch nichts zu verlieren: Wir wollen Ihrem Sohn nichts tun und ihn fair behandeln, wir wollen nur das Geld und dies in einer Höhe, die Ihnen Ihr Sohn wert sein sollte«, kann auch als weiteres Indiz für eine Beziehung dienen.
Der nächste Absatz: »Lassen Sie uns mit dem Geld das Land verlassen und unternehmen Sie keine Nachforschungen. Wenn wir mit sauberem Geld in Sicherheit sind, werden Sie Ihren Sohn wiedersehen. Das ist für beide Seiten das Beste«, weist darauf hin, dass der Verfasser unter einem persönlichen Druck steht und auf die erfolgreiche Bewältigung angewiesen ist. Der Absatz steht im Widerspruch zu der Aussage über die Freilassung und lässt eher den Schluss zu, dass es erst nach längerer Zeit zum Freikommen des Opfers kommen wird. Wir bewerten das Schreiben als uneingeschränkt ernsthaft. Für eine erhöhte Gefährdung des Opfers sprechen, dass es kein Lebenszeichen gibt und keine konkrete Planung der Tatphase und der Zeit nach der Tat erkennbar ist, also ein Zweifel an der Gesamtplanung angebracht ist. Es besteht ein eindeutiger Widerspruch in der Aussage zur Freilassung des Opfers und der Angabe, dass sich die Täter dann bereits im Ausland befinden werden.
Leider können wir keine Aspekte finden, die gegen eine hohe Opfergefährdung sprechen.
Der zeitliche Ablauf am Montag wird daher stark abhängig vom Zeitpunkt der Geldabholung sein. Wird das Geld sehr früh abgeholt, könnte der Täter noch Zeit für die Freilassung haben, bei einer späteren Abholung kann damit nicht gerechnet werden.
Die Analyse ließ keinen Zweifel, Jakob schwebte in extremer Gefahr.
Ich stand an der großen Magnettafel und studierte alle bis dahin bekanntgewordenen Namen, die uns gefaxt worden waren. Ein Teil meiner Mitarbeiter hatte alle feststellbaren Erkenntnisse über die aufgelisteten Personen zusammengefasst. Jeder Name konnte ein Verdächtiger sein. Die Informationen über Person und soziales Umfeld, die wir beschaffen konnten, mussten ausgewertet werden, um eine mögliche kriminelle Energie einschätzen zu können. Die ersten Nachforschungen blieben ohne Ergebnis.
Uns fehlten noch die Bankinformationen darüber, ob einer der Aufgelisteten so große Schulden hatte, dass ein solches Verbrechen plausibel erscheinen würde.
Keine Vorstrafen. Vielleicht hegt jemand Rachegelüste? Ein ehemaliger Kunde der Bank, ein entlassener Angestellter, eine beim Klauen erwischte Haushaltshilfe, ein auf den Wohlstand der Familie neidischer Vater eines Schulkameraden? Aber die mir vorliegenden Informationen erbrachten keinen Hinweis. Wahrscheinlich fehlte jemand auf der Liste. In der Aufregung musste einem Familienmitglied ein Name, eine Erinnerung entfallen sein, eine Randfigur ihres Daseins, vielleicht so unauffällig, dass diese Person nicht einmal bewusst wahrgenommen wurde. Nach der Analyse der Beratergruppe war der Täter fast zweifellos im Bekanntenkreis zu suchen.
Ich hatte das Gefühl, dass der Brief lange vor der Entführung geschrieben worden war, da
Weitere Kostenlose Bücher