Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
musste.
Einige Beamte der operativen Einheit sollten im Laufe des Samstags zur Villa kommen und das Geld entgegennehmen.
Bei Einbruch der Dunkelheit würde dann, wie im Erpresserschreiben gefordert, ein Auto mit eingeschaltetem Standlicht in der Hofeinfahrt abgestellt werden.
Schließlich wurden den Polizisten ihre Zimmer gezeigt, in denen sie übernachten konnten. Polizeipsychologe Stefan S. verließ das Haus gegen 19 Uhr, da er ins Präsidium musste, Hans-Joachim Wölfel und sein Kollege blieben da.
Ich dachte darüber nach, wer dieser Entführer eines elfjährigen Jungen sein könnte. Trieb ihn die Gier nach Geld, sexuelle Verderbtheit, die nichtige Langeweile eines leeren Daseins, Hass, Rache? Oder waren es mehrere Entführer, eine Gruppe professioneller Verbrecher, die mit der psychischen Zerstörung Unschuldiger ihren Lebensunterhalt verdienten – gefühlskalt, abgestorben, einfach so mit dem unsäglichen Schmerz und der Angst der Betroffenen spielten?
Eine Kindes- oder Geschwisterentführung übersteigt jegliche Form von Grausamkeit – auch in ihrer Auswirkung auf Eltern und Geschwister –, man spricht in diesem Fall von einer sekundären Traumatisierung der indirekt Betroffenen. Sie erleben Kontrollverluste, Hilflosigkeit und schwerste Bedrohung.
Die meisten traumatisierten Personen leiden ihr Leben lang unter seelischen Störungen, Verzweiflungszuständen, Schlaflosigkeit, Angst. Ein Teil wird herzkrank. Manche sehen im Selbstmord den letzten Ausweg, um sich vom Schmerz des Erlebten zu befreien.
Die Chance eines Kindes, dieses Trauma ohne lebenslangen psychischen Schaden zu überstehen, wächst mit der schnellstmöglichen Auffindung des Opfers.
Oft fragte ich mich, was letztlich ausschlaggebend ist für eine solch grausame Tat, was bestimmt, auf welcher Seite wir stehen?
Etienne de Greef, ein belgischer Kriminologe, erklärt dazu, dass eine kriminelle Persönlichkeit eine deformierte, anhängliche Hingabe an sein Umfeld aufweist und vom Gefühl getrieben wird, das Leben wäre ungerecht.
Wir tauschten erste Eindrücke über den Erpresserbrief aus.
»Die tun so, als wären sie Ausländer, der Genitiv am Schluss stimmt aber, nee, nee, das sind Deutsche.«
»Die Entführer scheinen sich hier in Frankfurt auszukennen. Wer kennt schon die Haltestelle Oberschweinstiege – die liegt mitten im Stadtwald.«
»Warum genau eine Million, vielleicht muss da jemand Schulden abbezahlen?«
»Ich glaube, dass es nur einen Entführer gibt; dass es mehrere sind, ist doch nur Show, niemand geht ein so hohes Risiko ein, um sich die Million zu teilen!«
»Auch diese Idee mit dem eingeschalteten Standlicht vor der Einfahrt und dem mit einem Stein beschwerten Erpresserbrief, diese Gefahr, die er oder sie auf sich nahmen, um sich der Villa zu nähern – mir scheinen es Dilettanten zu sein.«
»Die müssen sich sehr sicher fühlen, vielleicht ist da jemand von der Familie oder den Hausangestellten, oder auch ein Angestellter der Bank des Vaters beteiligt.«
»Du hast Recht, der Junge könnte seinen oder seine Entführer kennen, er ist nicht am helllichten Tag verschleppt worden, sondern freiwillig mitgegangen.«
»Dass der Erpresserbrief auf einer Schreibmaschine getippt ist, ist auch nur ein Ablenkungsmanöver, soll uns auf ein bestimmtes Milieu verweisen.«
»Wie soll denn der Junge am nächsten Morgen wohlauf nach Hause gelangen, wenn die Entführer ins Ausland abhauen wollen, der wird sich doch nicht alleine befreien können, da stimmt was nicht, da ist was faul an der Sache!«
Genau das war es, wir spürten, der Erpresserbrief war in sich nicht stimmig. Und während wir hier im Büro saßen und über den Erpresserbrief diskutierten, war irgendwo da draußen ein elfjähriger Junge völlig auf sich alleine gestellt, nur er und seine Angst.
Aus gerichtsmedizinischer Sicht entwickelt ein entführtes Kind in seiner unerträglichen Angst extreme Stresssymptome, der Blutdruck ist stark erhöht, die Pulsfrequenz steigt, das Kind schwitzt mehr als sonst. Außerdem ist es psychisch so sehr geschwächt, dass es in dieser Situation keine überlebensstrategischen Entscheidungen treffen kann.
Die Lebenserwartung verringert sich bereits durch diese Umstände beträchtlich.
Dazu kommt, dass der menschliche Stoffwechsel nur dann funktioniert, wenn dem Körper ausreichend Flüssigkeit zur Verfügung gestellt wird. Täglich benötigen wir etwa zwei bis zweieinhalb Liter Wasser, und etwa die gleiche Menge scheidet der
Weitere Kostenlose Bücher