Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
angeklagten Taten zu diesem Angeklagten passen. Die Hauptverhandlung hat, soweit wir Zugang und Einblick in die Persönlichkeit des Angeklagten gewinnen konnten, diese Diskrepanz zwischen Tat und Täter nicht bestätigt.
(aus dem Schlussplädoyer von Rechtsanwalt Kempf, im Prozess gegen Gäfgen Vertreter von Jakobs Eltern als Nebenklägern)
Nach § 343 des Strafgesetzbuches (StGB) macht sich nur strafbar, wer als Amtsträger, der zur Mitwirkung an einem Strafverfahren berufen ist, einen anderen körperlich misshandelt, gegen ihn sonst Gewalt anwendet, ihm Gewalt androht oder ihn seelisch quält, um ihn zu nötigen, in diesem Verfahren etwas auszusagen oder zu erklären oder dies zu unterlassen.
Diese Voraussetzungen waren in unserem Fall in keiner Weise gegeben. Polizeivizepräsident Daschner handelte ausschließlich im Bereich der Gefahrenabwehr, zur Rettung Jakobs.
In seinem Vermerk vom 1. Oktober 2002 schreibt er ausdrücklich: »Die Befragung des Gäfgen dient nicht der Aufklärung der Straftat, sondern ausschließlich der Rettung des Lebens des entführten Kindes.« Er hatte mich auch angewiesen, keine Fragen zum Tathergang und zur Tatbeteiligung zu stellen.
Am selben Tag hatte Daschner Oberstaatsanwalt Rainer Schilling über die angedachte Maßnahme informiert. Darüber hinaus hatte er gerade durch seinen Vermerk sichergestellt, dass die erste Aussage Gäfgens über das Versteck der Leiche im Strafverfahren nicht verwendet werden durfte.
Daschner hatte bewusst ein klares Beweisverwertungsverbot geschaffen.
Die bundesweit für Entführungsfälle geltende Polizeidienstvorschrift (PDV) 131 macht die eindeutige Trennung zwischen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung deutlich:
»Die Polizei ist verpflichtet,
– das Leben des Entführten zu schützen und ihn zu befreien (Gefahrenabwehr),
– Beweise zu sichern und die Täter festzunehmen (Strafverfolgung).«
Im Falle eines Konflikts zwischen diesen beiden Aufgaben ist die Pflicht vorrangig, das Leben des Entführten zu schützen und ihn zu befreien. Dieser Grundsatz bestimmt Art und Weise der polizeilichen Maßnahmen. »Die Gefahrenabwehr ist ausschließlich Aufgabe der Polizei; in diesem Bereich besteht kein Raum für Anordnungen des Staatsanwalts.«
Trotzdem wurden wir öffentlich des Verbrechens der Aussageerpressung bezichtigt.
Die Staatsanwaltschaft ermöglichte damit die reißerische Pressekampagne und gab dem Verteidiger Endres die Chance, den Polizeivizepräsidenten öffentlich als »Verbrecher« zu attackieren – mit allen sich daraus ergebenden negativen Folgen auch für dessen Familie und für mich.
Gilt die Pflicht aller staatlichen Gewalt und damit auch der Staatsanwaltschaft, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, nur für Verbrecher? Steht Polizeibeamten das Recht auf menschenwürdige Behandlung nicht zu?
Am 12. März 2003 fand ein Telefongespräch zwischen dem Leiter der Staatsanwaltschaft und dem Polizeipräsidenten statt. Es wurde mitgeteilt, dass der Vorwurf der Aussageerpressung vom Tisch sei und das Verfahren eingestellt werde. Er hatte den Fehler seiner Behörde erkannt.
Aber öffentlich wurde dieser schwerwiegende Vorwurf bis zur Erhebung der Anklage am 11. Februar 2004 nicht widerrufen.
Für die Presse hatten wir gefoltert. Ein Kindsmörder hatte sich in ein Folteropfer verwandelt.
Neben den Brüdern B. waren während der Ermittlungen auch weitere Personen von Durchsuchungen betroffen. Der Vater eines Betroffenen schrieb am 25. Februar 2003 folgenden Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z):
»Es wird mir übel, wenn ich verfolge, wie selbst ernannte Wächter der Menschlichkeit jede Gelegenheit nutzen, sich zu profilieren. Da hat ein Staatsbeamter sich getraut, Notfallregeln anzuwenden, um ein Menschenleben zu retten. Anstatt Anordnungen, die sich erklärter- und zugegebenermaßen im Grenzbereich der Legalität bewegen, zu verstecken, hat Herr Daschner die Größe bewiesen, sein Handeln aktenkundig zu machen. Es ging doch alleine darum, ein winziges Menschenleben zu retten. Diesen Versuch hat die Polizei unternommen. Wie weit entfernt von der Realität sind von der Würde des Menschen dozierende Politiker und Amnesty-International-Würdenträger eigentlich? Ist denen klar, dass erst die Tatsache der Lebensexistenz erfüllt sein muss, um eine Menschenwürde zu begründen? So ist es und nicht umgekehrt. Ich würde mit Freude einen ganzen Stapel nationaler Gesetze und Menschenrechtskonventionen
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