Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
zu benennen, war ein polizeilicher Verwaltungsakt. »Polizeiliche Verwaltungsakte können mit Zwangsmitteln (Ersatzvornahme, Zwangsgeld und notfalls unmittelbarer Zwang) durchgesetzt werden. Im hier erörterten Fall kam offensichtlich ausschließlich unmittelbarer Zwang in Betracht«, schrieb Universitätsprofessor Dr. jur. Hans-Werner Laubinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1. März 2003.
Bei der Anwendung körperlicher Gewalt zur Durchsetzung der gesetzlichen Auskunftspflicht müsse der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Körperliche Gewalt zur Durchsetzung der Auskunftspflicht darf also nur zu dem Zweck eingesetzt werden, überragend wichtige Rechtsgüter, wie eben das Leben von Menschen, zu schützen. Kein vernünftiger Mensch käme auf die Idee, in all diesen Fällen von »Folter« oder einer »Verletzung der Menschenwürde« zu sprechen, wenn diese Maßnahmen innerhalb des gesetzlichen Rahmens unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durchgeführt werden. Was zur Beweissicherung bei einer folgenlosen Trunkenheitsfahrt zulässig ist, soll zur Verhinderung eines Mordes an einem unschuldigen Kind verboten sein?
Darf die Anwendung unmittelbaren Zwanges zur Abgabe einer Erklärung erfolgen?
Unmittelbarer Zwang ist ein feststehender Begriff aus dem Polizeirecht und in allen Polizeigesetzen des Bundes und der Länder klar definiert als »Einwirkung auf Personen oder Sachen durch körperliche Gewalt, durch Hilfsmittel und durch Waffen«. Das Hessische Sicherheits- und Ordnungsgesetz (HSOG) widmet diesem Bereich zehn Paragrafen mit 32 Absätzen. Als »körperliche Gewalt« wird darin »jede unmittelbare körperliche Einwirkung auf Personen oder Sachen« bezeichnet, und als »Hilfsmittel« gelten insbesondere Fesseln, Wasserwerfer, technische Sperren, Diensthunde, Dienstpferde, Dienstfahrzeuge und Sprengmittel (§ 55 HSOG). Die Gewalteinwirkung erfolgt durch definierte »Polizeigriffe«, die weitgehend den Regeln des Deutschen Sportbundes entsprechen und tagtäglich in Hunderten von Sporthallen angewandt werden.
»Die polizeirechtlichen Vorschriften des HSOG bieten keine Ermächtigungsgrundlagen für die zwangsweise Durchsetzung einer Aussage, sondern verbieten sie«, schrieb die 27. Große Strafkammer, die uns verurteilt hatte; auch die allgemeine Schutzpflicht des Staates und seiner Institutionen, wie zum Beispiel der Polizei, gewähre keine diesbezüglichen Eingriffsbefugnisse. Zwar sei Gäfgen Störer im Sinne des § 6 Abs. 1 HSOG und damit nach § 12 Abs. 2 HSOG auskunftspflichtig gewesen, nach § 52 Abs. 2 HSOG sei aber unmittelbarer Zwang zur Abgabe einer Erklärung ausgeschlossen.
Dieser Auffassung steht entgegen, dass die elementare staatliche Schutzaufgabe für das menschliche Leben nicht nur die vollziehende Gewalt (und die Rechtsprechung), sondern auch die Gesetzgebung bindet (Art. 30 Abs. 3 GG). Daraus folgt, dass der Schutz des menschlichen Lebens weder durch ein Gesetz (wie § 52 Abs. 2 HSOG) noch durch dessen Interpretation eingeschränkt werden darf. Wie ich schon vorher beschrieben habe und jetzt wiederhole, hat das Bundesverfassungsgericht deshalb einen engen Gesetzespositivismus abgelehnt.
Durch die Einschränkung in § 52 Abs. 2 HSOG wird daher der polizeiliche Auftrag der Gefahrenabwehr ebenso wenig aufgehoben wie die Pflicht der Polizei zur Hilfeleistung aus der Garantenstellung für das Entführungsopfer.
Zu berücksichtigen ist auch, dass eine dem § 52 Abs. 2 HSOG entsprechende Regelung (»Unmittelbarer Zwang zur Abgabe einer Erklärung ist ausgeschlossen«) beispielsweise nicht enthalten ist
– in den Polizeigesetzen der Länder Baden-Württemberg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Sachsen,
– im Strafvollzugsgesetz des Bundes (§§ 94 ff. StVollzG),
– im Gesetz des Bundes über die Anwendung unmittelbaren Zwanges (Bundeskriminalamt, Bundesgrenzschutz) sowie
– im Gesetz des Bundes über die Anwendung unmittelbaren Zwanges und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr sowie zivile Wachpersonen (UZwGBw).
Es wäre absurd und verfassungswidrig, die Vorschrift des § 52 Abs. 2 HSOG dahingehend auszulegen, dass das Leben eines entführten Kindes durch die Androhung unmittelbaren Zwanges in Rheinland-Pfalz gerettet werden dürfte, im unmittelbar angrenzenden Hessen dagegen nicht.
Entscheidend aber ist, dass wir die Anordnung unmittelbaren Zwanges ausschließlich zur Rettung des Kindes aus
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