Um Leben Und Tod
die des anderen. Ist Deutschland deswegen ein Unrechtsstaat? Wohl kaum.«
Dann beschrieb er unseren Fall und nennt Daschners Entscheidung ein »finales Rettungsmittel«. Das Bild des »Dammbruchs«, den unser Fall ausgelöst haben soll, benutzte er auch und sprach uns aus der Seele:
»Die Dämme sind längst gebrochen. Aber nicht durch die Polizei oder durch die Politik, sondern durch das Verbrechen, namentlich den Terrorismus. Gegen die Gewaltdimensionen des 11. September helfen keine Gesprächstherapien oder Rechtsgutachten â¦Â«
Der Artikel beschreibt die damalige Sicht. Das Luftsicherheitsgesetz wurde erlassen und trat am 15. Januar 2005 in Kraft. § 14 Absatz 3 dieses Gesetzes erlaubte die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt gegen ein Flugzeug, wenn nach den Umständen davon auszugehen war, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollte und die MaÃnahme das einzige Mittel zur Abwehr gegen diese Gefahr wäre.
Doch im Februar 2006 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass § 14 Absatz 3 gegen das Grundrecht auf Leben und gegen die Menschenwürde verstöÃt und deshalb verfassungswidrig ist. Wesentlicher Inhalt der Begründung war, dass die Flugzeuginsassen nicht auf der Grundlage eines sicheren Geschehensablaufs, sondern immer nur eines hypothetischen Szenariums getötet würden. Zudem lasse das Grundgesetz eine Quantifizierung von Leben nicht zu.
Diese gesamte Problematik war auf unseren Fall nicht anwendbar. Im Gegenteil, wir hatten keinen hypothetischen Geschehensablauf. Wir wussten genau, dass Gäfgen Jakob entführt hatte. Wir wussten nur nicht, in welchem Zustand sich das Opfer befand. Aber solange wir durch eindeutige Ermittlungen oder durch Aussage des Täters nichts Gegenteiliges erfuhren, mussten wir davon ausgehen, dass Jakob lebte und das wahrscheinlich unter erbärmlichsten Umständen â das waren unsere Erfahrungen aus früheren Fällen.
Und quantifiziert haben wir schon gar nicht. Daschner hatte das Leben Jakobs gegen die körperliche Unversehrtheit des Täters abgewogen, und der Täter hatte jederzeit die Möglichkeit, diesen angedachten Eingriff zu vermeiden oder zu beenden.
Am Tag nach der Aussage unserer Kollegen konnte ich in der Bild -Zeitung einen Artikel lesen, der die Vernehmung unserer Kollegen fast wortwörtlich wiedergab. Schon am Vortag im Gerichtssaal war ich zutiefst enttäuscht über ihre â meines Erachtens â unehrlichen Aussagen gewesen. Sie dann gedruckt, der Ãffentlichkeit zugänglich gemacht, wiederzufinden, verletzte mich noch mehr.
»Gestern belasteten ihn die Kollegen!«, schrieb Kolja Gärtner und listete die Aussagen auf: die »intuitiven Vorbehalte« und die Hoffnung, Gäfgen »emotional zu erreichen«, von Werner T. Dennoch habe er den Leiter des Sondereinsatzkommandos angewiesen, einen Beamten zu finden, der bereit sei, Gäfgen zu »foltern«. Kriminaloberrat Joachim W. habe sich gegen dieses Ansinnen aus »Fürsorgepflicht« gegenüber seinen Mitarbeitern gewehrt, schlieÃlich aber einen Freiwilligen gefunden. Und Kriminaloberrat Edwin F. sprach von einem »Alternativkonzept«, das auf der Grundlage der Einschätzung des Polizeipsychologen Stefan S. entwickelt worden sei. Stefan S. habe Gäfgen als selbstverliebte Persönlichkeit eingeschätzt, die sich ȟber Geld« definiere; er werde kaum auf die Drohung, gegen ihn werde »unmittelbarer Zwang« ausgeübt, reagieren. Man habe ihn deshalb mit der Schwester des Entführten konfrontieren wollen, die ihn allerdings nur »beiläufig« gekannt habe, auch eine Gegenüberstellung mit dem Bruder und seinen Eltern sei noch möglich gewesen. »Ganz viel versprochen habe er sich davon«, sagte Edwin F.
Warum sagten die drei nicht, dass sie am Morgen des 1. Oktober 2002 mit ihrem Latein am Ende waren? Warum gaben sie nicht zu, dass sie das Problem des Verdurstens und Erfrierens anscheinend nicht in ihre Bewertung einbezogen hatten, dass sie sich um die »Deadline« für das Leben Jakobs keine konkreten Gedanken gemacht hatten?
Der Zeitrahmen, der für die Durchführung des »Alternativkonzepts« noch zur Verfügung stand â oder besser gesagt: nicht mehr zur Verfügung stand, wurde weder vom Staatsanwalt noch von den Richtern berücksichtigt. Noch bevor die Konfrontation mit Elena von Metzler
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