Umarme mich, aber rühr mich nicht an - Die Körpersprache der Beziehungen. Von Nähe und Distanz
Zumindest sollte er die Patientin fragen, ehe er seine Untersuchungen beginnt, damit die Betroffene
das Gefühl haben kann, mit entschieden zu haben, was geschieht, und ihm gestattet zu haben, ihr so nahe zu kommen.
Das sind zwei Beispiele für unzählige Variationen desselben Problems, das sich zwischen »Berufsberührern« und Patienten ergibt, die ewig Laien bleiben werden, beim Zahnarztbesuch wie bei Operationen der kompliziertesten Art und an den intimsten Bereichen des Menschen.
Zu einer großen Diskrepanz von Nähe und Distanz kommt es auch in der Pflege alter oder bedürftiger Menschen. In den Pflegeberufen wird vielleicht das höchste Maß an Selbstüberwindung verlangt, das sich denken lässt. Nicht allein dadurch, dass die alten oder kranken Menschen gebettet, gewaschen, und aufs Intimste berührt werden müssen, wird die Belastung des Pflegepersonals so hoch, sondern weil sie damit konfrontiert werden, dass die Patienten sich ihnen, also im Grunde völlig fremden Menschen, ausliefern müssen, von ihnen auf eine befremdliche Weise abhängig sind. Im Allgemeinen beschränkt sich das Pflegepersonal darauf, die Arbeit höflich und professionell zu erledigen, um zu signalisieren, dass es die unvermeidliche Nähe auf keinen Fall zu persönlichem Kontakt nutzen will. Für den Hilfsbedürftigen bleibt es dennoch schwer erträglich, diese Nähe Tag für Tag und vielleicht Nacht für Nacht in Anspruch nehmen zu müssen. Denn außer der offenbaren Schwäche und Reduzierung der eigenen Person bleibt es auch noch außerhalb der eigenen Entscheidungsgewalt, wann Nähe und wann Distanz gegeben sein wird. Welcher Patient wird schon gefragt, wann er gewaschen werden möchte? Würde man ihn fragen, bliebe ihm jedenfalls das Gefühl, er selbst bestimme über Nähe und Distanz.
Den Menschen, die rund um die Uhr der Pflege bedürfen, bleibt so gut wie gar keine Zeit, in der sie mit sich allein sein können. Fremde wühlen in ihren Habseligkeiten, blättern in ihren Papieren, waschen sie, kleiden sie, bestimmen über den Ablauf ihrer Tage und Nächte. Diese Belastungen lassen sich mildern, indem es stets dieselben Personen bleiben, die in unmittelbarer Nähe beschäftigt sind. Man sollte auch nicht vergessen anzuklopfen, bevor man ein Krankenzimmer betritt, statt die Tür einfach aufzureißen. Auch sollte man den Patienten fragen, ob er für bestimmte Tätigkeiten oder Vorgänge bereit sei, selbst wenn es nur pro forma geschähe. Es kann zu einem seelischen Problem für den Patienten werden, nicht eine Sekunde für sich selbst übrig zu haben, gerade dann, wenn er ständig
auf fremde Hilfe angewiesen ist. Es scheint mir wichtig, dem Patienten das Gefühl zu vermitteln, dass es auch für ihn Zeit gibt, dass er gewisse Dinge für sich behalten darf, dass er sich bei all der unfreiwilligen Nähe von Zeit zu Zeit Distanz schaffen darf, und sei es durch Unzufriedenheit, die er auch einmal nicht herunterzuschlucken braucht. Gelegentlich zu klagen, verleiht Distanz und damit Erleichterung. Wer klagt, bestätigt sich sein eigenes Ich. Es erlaubt ihm, wieder Grenzen zu setzen zwischen sich und den anderen.
Personalknappheit in Kliniken ist leider ein allzu bekanntes Problem. Es hindert das Pflegepersonal daran, sich nach den Wünschen der Patienten zu richten. Nicht der Rhythmus der Patienten bestimmt den Arbeitsablauf, sondern der Rhythmus des Dienstplans. Sollte es nicht möglich sein, das Vorgehen jedes noch so einfachen Hotels bis zu einem gewissen Grad zu übernehmen, nach der beim Aufräumen auch einmal ein Zimmer übersprungen wird, wenn der Gast es wünscht, stattdessen sich erst um den nächsten Raum zu kümmern und später zurückzukehren, wenn der betreffende Bewohner bereit ist? Es gäbe dem Patienten etwas von seiner Würde zurück mit dem Gefühl, selbst entscheiden zu können, wann er bereit ist, sich wiederum der unfreiwilligen Nähe auszusetzen.
Viel wichtiger aber scheint es mir, eine, wenn man so will, intellektuelle und emotionale Distanz zuzulassen. Das heißt, Verständnis dafür aufzubringen, dass ein Mensch nicht alles und vor allem nicht jedermann alles zu erzählen wünscht. Eine Aussprache über emotionale Probleme sollte nur einer Vertrauensperson gegenüber stattfinden müssen. Räumliche Distanz ist dem rundum pflegebedürftigen Patient versagt, intellektuelle und emotionale Distanz sollte er erwarten dürfen.
Sobald es möglich ist, diese Fragen offen anzusprechen, wird es möglich sein, sie zu
Weitere Kostenlose Bücher