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Umarme mich, aber rühr mich nicht an - Die Körpersprache der Beziehungen. Von Nähe und Distanz

Umarme mich, aber rühr mich nicht an - Die Körpersprache der Beziehungen. Von Nähe und Distanz

Titel: Umarme mich, aber rühr mich nicht an - Die Körpersprache der Beziehungen. Von Nähe und Distanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samy Molcho
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großzügig aus. Zur Nähe lädt sie jedoch nicht ein.

    Bei größeren Sitzungen nimmt der Vorgesetzte nicht ohne Grund den Platz am Kopf des Tischs ein. Denn hier sitzt links und rechts niemand neben ihm, und er bewahrt sich auf diese Weise seine Bewegungsfreiheit. Manchmal werden auch noch die ersten Plätze an den Längsseiten des Tischs frei gehalten. Der Chef wünscht eine noch größere Distanz, möchte auf keinen Fall mit den anderen in Berührung kommen. Er verlangt Distanz statt Nähe und demonstriert damit seinen absoluten Herrschaftsanspruch.
    An den Längsseiten des Tischs wird es gelegentlich eng. Sind mir die dicht nebeneinander sitzenden Mitarbeiter vertraut, wird mich ihre Nähe nicht stören, sondern gibt mir vielleicht sogar ein angenehmes Gefühl von Verbundenheit und eine Art Gegengewicht zur Übermacht des Vorgesetzten nach dem Motto: »Gemeinsam sind wir stark!« Sitzen dagegen Fremde neben mir oder Leute, die mir nicht sympathisch sind, vielleicht auch nur nicht den gleichen Rhythmus mit mir teilen, werde ich mich beengt fühlen. Die Enge wird mir bewusst und weckt in mir den Wunsch nach Distanz. Doch diesen Wunsch kann ich mir nicht erfüllen, weil ich mir in der geschlossenen Reihe, in der ich sitze, keine Distanz schaffen kann. Der einzige Ausweg ist, mich innerlich zu distanzieren, was mich allerdings daran hindern kann, mich am Gespräch zu beteiligen und meine Energie unbehelligt in Fluss zu halten.
    Grundsätzlich empfiehlt es sich also, weniger Leute zu versammeln oder ihnen ausreichend Raum und damit auch geistige Bewegungsfreiheit zu geben. Nähe könnte dann freiwillig, das heißt, durch Zuwendung entstehen und nicht durch verordnete Enge. Sind die Ausführungen des Vortragenden allerdings interessant genug, wird sich ihm die Aufmerksamkeit und Energie der Zuhörer zuwenden, und sie werden vergessen, dass links und rechts von ihnen überhaupt jemand sitzt. Ihre Energie wird nach vorn gezogen und verteilt sich nicht mehr nach links und rechts, und sie können der erzwungenen Nähe entfliehen. Sie orientieren sich frontal nach vorn, wofür ihnen auch der Raum zur Verfügung steht. Jedenfalls spielt die Sitzordnung eine wesentliche Rolle für den unbehinderten Energiefluss aller Beteiligten und ist damit die Voraussetzung für optimale Aufmerksamkeit.
    Auch der runde Tisch eignet sich hervorragend für Konferenzen aller Art, vorausgesetzt, er bietet ausreichend Platz für alle Teilnehmer. Enge kann selbstverständlich auch am runden Tisch entstehen, und zwar mit denselben unangenehmen Konsequenzen.

    Ein Arbeitsplatz auf dem Gang verhindert es, sich eine private Atmosphäre zu bauen, sich ein vertrautes, eigenes Territorium zu schaffen und sich wohlzufühlen.

    Schon lässt sie die Hände sinken, als zwei Kollegen diskutierend hinter ihr vorbei gehen. Die Irritation beginnt bereits damit, dass überhaupt jemand hinter ihrem Rücken agiert. Niemand spürt gern einen Fremden in seinem Rücken.
    Kein Wunder, dass sie sich schließlich umdreht, um sehen zu können, wer da hinter ihr geht. Ihr Blick spricht von Irritation.

    Enge, das haben auch Versuche mit Ratten und Mäusen ergeben, erzeugt Stress. Dieser führt generell entweder zu inneren Schäden, weil die Flucht nach innen führt, oder zu Aggression nach außen. Denken wir einen Moment an unsere Schulzeit, an überfüllte Klassen, an die relativ kleinen Tische, an denen die Schüler eng nebeneinander sitzen müssen. Lehrer können ein Lied davon singen, wie die Enge die Kinder dazu reizt, einander gegenseitig anzugreifen, da sie den Wunsch nach Distanz anheizt. Natürlich wird der Angegriffene sich wehren oder sich zu entziehen suchen, also Distanz zu finden. Wird straffe Ordnung in der Klasse verlangt, blockiert die erzwungene Nähe die Aufmerksamkeit der Schüler. In der Pause wird endlich durch Rennen und Schreien der Stau abgebaut, den die Enge im Klassenzimmer verursacht hat. Es existieren viele Möglichkeiten, diesen Zustand zu ändern. Arbeiten die Kinder in kleineren Gruppen an großen Tischen und gehen die Lehrer von einem Tisch zum anderen, von einer Gruppe zur anderen, ist schon viel gewonnen, vor allen Dingen ist die Enge aufgelöst, die blockierend wirkt.
    Im öffentlichen Raum, bei Veranstaltungen, im Kino oder in der Straßenbahn werden die meisten von uns, jedenfalls in westlichen Ländern, versuchen, einen Platz zu finden, der nicht unmittelbar an einen anderen, schon besetzten anschließt, sei es, um den

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