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Umarme mich, aber rühr mich nicht an - Die Körpersprache der Beziehungen. Von Nähe und Distanz

Umarme mich, aber rühr mich nicht an - Die Körpersprache der Beziehungen. Von Nähe und Distanz

Titel: Umarme mich, aber rühr mich nicht an - Die Körpersprache der Beziehungen. Von Nähe und Distanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samy Molcho
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lösen. Denn beide, Pfleger und Patient, haben mit der Balance zwischen Nähe und Distanz zu tun. Es ist für eine Krankenschwester nicht immer einfach, damit fertig zu werden, dass ein Patient, für den sie wirklich alles getan hat, deutlich nach Distanz verlangt. Muss sie ihn in diesem Moment nicht für undankbar halten? Es bedarf Geduld und Einfühlungsvermögen, um zu akzeptieren, dass es sich nicht um eine Abwendung von ihrer Person handelt, sondern dass schlicht jenes Übermaß an Nähe den Wunsch nach Distanz übermächtig werden lässt: eine seelische Notwendigkeit. Zuletzt ist alles eine Frage des gegenseitigen Verständnisses.
Wenn wir einander akzeptieren, wird es möglich sein, aber wahrscheinlich nur dann, wenn es uns gelingt, eigene Gefühle von Verstimmung zu überwinden.

Allein unter vielen - Raumgewinn
    Im Orient lebt nach wie vor eine sehr schöne Tradition, Abstand zu nehmen. Anders als in Europa, wo man sich in sein Zimmer zurückzieht und die Tür zumacht, hat im Orient die Zeltkultur ihren Einfluss nicht verloren. Im Zelt lebten alle in einem großen Raum, es gab keine Türen, die man hätte schließen können. Noch heute sieht man im Orient, im Zelt wie früher oder in anderen öffentlichen Räumen, wie jemand sich in sich selbst versenkt. Niemand wird ihn stören. Er will im Moment weder angesprochen werden noch sich selbst ausdrücken. Ich habe diesen Vorgang häufig in Kaffeehäusern im Mittelmeerraum beobachten können. Dort sitzen die Männer oft und lange in Kaffeehäusern. Man unterhält sich, nur einer mitten unter ihnen ist ganz in sich versunken. In Mitteleuropa würde man ihn sofort fragen, was passiert ist, ob er etwas braucht. Bei uns muss derjenige, der allein sein will, aufstehen und sich entfernen. Die Möglichkeit mitten unter den anderen zu bleiben, dabei zu sein und doch nicht dabei zu sein, existiert bei uns nicht. Aber wir sollten lernen, sie zu akzeptieren und zu tolerieren. Sie nachzumachen, wird uns kaum gelingen.
    Es sind stets die Probleme vom Ertragen-Müssen unerwünschter, aber notwendiger Nähe, die uns im Umgang mit anderen Menschen beschäftigen. Sie ergeben sich selbstverständlich auch auf ganz harmlosen Lebensebenen.
    Unfreiwillige Nähe entsteht zum Beispiel auch beim Restaurantbesuch, wenn uns der Kellner Speisen bringt. Notwendigerweise kommt er uns dabei physisch sehr nahe. Er rückt uns sozusagen auf den Leib, und wir empfinden diese Berührung unter Umständen als äußerst unangenehm. Ich helfe mir in dieser Situation damit, dass ich den Kellner für mich auf seine Funktion reduziere. Ich begreife ihn also nicht als Person. Sobald dies gelingt, fällt es mir leichter, seine eigentlich unerwünschte physische Nähe zu akzeptieren. Die Nachfrage, ob es mir geschmeckt hat, ich vielleicht noch Wünsche habe, sollte im Ton höflich, aber nicht vertraulich
sein, was wiederum dazu beiträgt, Nähe und Distanz in der Balance zu halten. Anders sieht es aus, wenn Sympathie im Spiel ist, wenn ich mich als Stammgast fühle und auch als vertrauter Gast angesehen werde. In diesem Fall hilft sogar ein freundliches Wort, ein munterer Scherz des Kellners über das Gefühl der unerwünschten Nähe hinweg.

Rituale - Wer gehört dazu, wer wird ausgeschlossen?
    Jedes streng eingehaltene Ritual schafft eine Distanz anderen gegenüber, die dieses Ritual nicht kennen. Das beginnt schon bei den Tischmanieren oder, vertrackter noch, bei der Kenntnis davon, wie man einen Tisch korrekt eindeckt, das heißt, wohin Gläser, Geschirr und Bestecke den Regeln nach gehören. Wer sich in diesen Ritualen auskennt, wird nicht davon irritiert sein, wenn er fünf oder sechs Bestecke aus Messern, Gabeln und Löffeln links und rechts von seinem Teller und dazu noch verschiedene Gläser, große und kleine, bei seinem Gedeck vorfindet. Er weiß zum Beispiel, mit welchem Besteck er anzufangen hat, ob die Reihenfolge von außen nach innen oder von innen nach außen geht. Er kennt sich auch unter den unterschiedlichen Gläsern aus, weiß, welches für Wasser und welches für Weißwein, für Rotwein, für den Aperitif oder den Digestif bestimmt ist. Kennen wir das jeweilige Ritual nicht, geraten wir den anderen Gästen bei Tisch gegenüber in eine missliche Distanz. Für eine Gesellschaft von Gästen gemischter sozialer Herkunft kann sich die sogenannte gesetzte Tischordnung also als ungeeignet erweisen, weil sie statt der gewünschten Nähe zueinander Distanzen und damit Dissonanzen hervorruft.

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