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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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wohlorganisierten Freundin, die immer dafür sorgte, dass sie pünktlich zu ihrem Zug kamen.
    »Der junge Mann, der uns interviewt hat, war nett«, sagte Alice. »Respektvoll, wie es sich gehört.«
    »Dir gegenüber, ja. Aber bei mir hat er sich einiges herausgenommen.«
    »Was denn?«
    »Hast du das nicht gemerkt?« Jane seufzte voller Selbstmitleid. »Als er all diese Bücher erwähnte, an die ihn mein letztes erinnert hat. Man kann ja nicht gut sagen, dass man manche davon gar nicht gelesen hat, sonst steht man da wie ein Dummkopf. Also spielt man mit, und dann denken alle, da hätte man seine Ideen her.«
    Alice hielt das für übertrieben paranoid. »Niemand hat das gedacht, Jane. Wahrscheinlich haben sie sich eher darüber mokiert, dass er mit seiner Belesenheit prahlen wollte. Und sie fanden es herrlich, als er von Moby Dick sprach, und du hast den Kopf schief gelegt und gefragt: ›Ist das nicht dieses Buch mit dem Wal?‹«
    »Aha.«
    »Jane, willst du mir etwa erzählen, du hättest Moby Dick nicht gelesen?«
    »Sah das so aus?«
    »Nein, überhaupt nicht.«
    »Gut. Na ja, ich hab nicht direkt gelogen. Ich hab den Film gesehen. Gregory Peck. Was hältst du denn davon?«
    »Von dem Film?«
    »Nein, sei nicht albern – von dem Buch.«
    »Ehrlich gesagt, ich hab’s auch nicht gelesen.«
    »Alice,du bist eine wahre Freundin.«
    »Liest du diese jungen Männer, über die alle Welt redet?«
    »Welche?«
    »Die, über die alle Welt redet.«
    »Nein. Ich finde, die haben sowieso schon genug Leser, meinst du nicht auch?«
    Ihre eigenen Verkaufszahlen blieben konstant, gerade so eben. Ein paar Tausend im Hardcover, um die zwanzig im Taschenbuch. Ihre Namen hatten noch einen gewissen Bekanntheitsgrad. Alice schrieb eine wöchentliche Kolumne über die Ungewissheiten und Misslichkeiten des Lebens, auch wenn Jane fand, es würde den Artikeln guttun, wenn darin mehr von Alices eigenem Leben die Rede wäre und weniger von Epiktet. Jane war noch immer gefragt, wenn beim Rundfunk jemand für den Sendeplatz Soziales/Frau/Freizeit/Humor gebraucht wurde, auch wenn ein Produzent ein klares » BM « neben ihre Kontaktdaten geschrieben hatte, was »Besser Morgens« bedeutete.
    Jane wollte die Stimmung halten. »Und die jungen Frauen, über die alle Welt redet?«
    »Bei denen geb ich mir wohl etwas mehr den Anschein, ich hätte sie gelesen, als bei den Jungs.«
    »Ich auch. Ist das schlimm?«
    »Nein, ich finde, das ist Frauensolidarität.«
    Jane zuckte zusammen, als ihr Wagen plötzlich von dem heftigen Windstoß eines entgegenkommenden Zugs geschüttelt wurde. Warum mussten die Gleise nur so dicht zusammenliegen? Und schon hatte sie alle möglichen Hubschrauberaufnahmen aus den Nachrichten vor Augen: ineinander verkeilte Waggons – dieser Ausdruck ließ alles noch dramatischer erscheinen –, am Bahnhang verstreute Züge, blinkende Lichter, Bergungsmannschaften, und im Hintergrundhatte sich ein Waggon auf einen anderen geschoben, als würde sich Metall mit Metall begatten. Ihre Gedanken sprangen schnell weiter zu Flugzeugabstürzen, Massenmord, Krebs, erdrosselten alten, alleinstehenden Damen und der Wahrscheinlichkeit, dass es keine Unsterblichkeit gab. Gegen solche Visionen konnte ihr Gott, der immer dafür war, nichts ausrichten. Sie kippte den letzten Rest Kognak in ihren Tee. Alice sollte sie auf andere Gedanken bringen.
    »Woran denkst du?«, fragte sie schüchtern, als stünde sie zum ersten Mal in der Schlange und wollte sich ein Buch signieren lassen.
    »Ehrlich gesagt habe ich mich gerade gefragt, ob du je auf mich eifersüchtig warst.«
    »Wieso fragst du dich das?«
    »Ich weiß nicht. Nur so ein komischer Gedanke, wie sie einem manchmal durch den Kopf gehen.«
    »Gut. Das ist nämlich nicht gerade nett.«
    »Nein?«
    »Nun ja, wenn ich zugebe, dass ich mal auf dich eifersüchtig war, bin ich eine schäbige Freundin. Und wenn ich sage, nein, war ich nie, dann hört sich das an, als wäre ich so von mir eingenommen, dass es in deinem Leben und deinen Büchern nichts gäbe, auf das ich eifersüchtig sein müsste.«
    »Jane, das tut mir leid. Wenn man es so sieht, bin ich ein gemeines Biest. Entschuldige bitte.«
    »Entschuldigung angenommen. Aber da du schon fragst ...«
    »Bist du sicher, dass ich das jetzt hören will?« Seltsam, dass sie Jane immer noch unterschätzen konnte.
    »... ich weiß nicht, ob ›eifersüchtig‹ der richtige Ausdruck ist. Aber ich war verdammt neidisch auf das Projekt mitMike Nichols

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