Unbefugtes Betreten
Zuckerschnecken! Manche Angewohnheiten sollte eine Frau mit den Jahren wirklich ablegen. Selbst wenn kleine Laster, verschämt vor dem Mikrofon gestanden, beim Publikum immer gut ankamen. Und was Moby Dick betraf, war für jedermann sonnenklar gewesen, dass Jane nicht ein Wort davon gelesen hatte. Gleichwohl war das der konstante Vorteil der gemeinsamen Auftritte mit Jane. Dadurch sah sie, Alice, besser aus: klar, nüchtern, belesen, schlank. Wie lange würde es dauern, bis Jane einen Roman über eine übergewichtige Schriftstellerin mit einem Alkoholproblem herausbrachte, die einen Gott findet, der sie wohlwollend betrachtet?Du bist gemein, dachte Alice bei sich. Du hättest wahrhaftig die Geißel so einer alten strafenden Religion verdient. Für dich ist stoischer Atheismus moralisch zu neutral.
Aus schlechtem Gewissen umarmte sie Jane ein wenig länger, als sie sich in Paddington dem Anfang der Taxischlange näherten.
»Gehst du zu der Party für die Autoren des Jahres bei Hatchards?«
»Ich war letztes Jahr eine Autorin des Jahres. Dieses Jahr bin ich eine vergessene Autorin.«
»Nun werd mal nicht wehleidig, Jane. Aber wenn du nicht gehst, geh ich auch nicht.« Alice sagte das mit Bestimmtheit und wusste zugleich, dass sie es sich später noch anders überlegen könnte.
»Wohin geht es als Nächstes?«
»War das nicht Edinburgh?«
»Kann sein. Das ist dein Taxi.«
»Mach’s gut, Partner. Du bist doch die Beste.«
»Du auch.«
Sie küssten sich noch einmal.
Später, bei ihrem gekochten Ei, stellte Alice fest, dass ihre Gedanken von den Seiten des Feuilletons zu Derek hin wanderten. Ja, er war ein Stoffel gewesen, aber ein Stoffel mit einer solchen Lust auf sie, dass sie sich keine Fragen stellen wollte. Und damals machte es Jane anscheinend nichts aus; sie fing erst später an, es ihr übel zu nehmen. Alice überlegte, ob das an Jane lag oder am Wesen der Zeit; aber sie kam zu keinem Schluss und wandte sich wieder ihrer Zeitung zu.
Unterdessen saß Jane in einem anderen Teil von London vor dem Fernseher, aß einen Käsetoast und kümmerte sich nicht darum, wo die Krümel hinfielen. Manchmal glitschteihre Hand am Weinglas ab. Eine Europapolitikerin in den Nachrichten erinnerte sie an Alice, und sie dachte über ihre lange Freundschaft nach und darüber, wie Alice, wenn sie gemeinsam auf der Bühne waren, sich immer als die Überlegene aufspielte und sie selbst das immer stillschweigend hinnahm. Lag das daran, dass sie einen unterwürfigen Charakter hatte, oder dass sie dachte, damit würde sie, Jane, mehr Sympathien gewinnen? Im Gegensatz zu Alice fand sie nie etwas dabei, ihre Schwächen einzugestehen. Dann war es vielleicht an der Zeit, sich zu den Lücken in ihrer Lektüre zu bekennen. Sie könnte in Edinburgh damit anfangen. Auf diese Tour freute sie sich. Sie stellte sich vor, dass diese gemeinsamen Lesereisen in Zukunft immer weitergehen würden, bis ... bis was? Statt des Fernsehschirms sah sie ein Bild ihrer selbst vor sich, wie sie in einem fast leeren Zug von irgendwoher zurückkam und tot umfiel. Was sie wohl machten, wenn so etwas passierte? Ob man den Zug anhielt – zum Beispiel in Swindon – und die Leiche herausholte, oder setzte man sie einfach wieder auf ihren Platz, als würde sie schlafen oder wäre betrunken, und fuhr weiter nach London? Irgendwo musste doch ein Protokoll aufgenommen werden. Aber wie konnte man einen Sterbeort angeben, wenn sie zu dem Zeitpunkt in einem fahrenden Zug war? Und was würde Alice tun, wenn ihre Leiche herausgeholt wurde? Würde sie ihre tote Freundin getreulich begleiten oder irgendeinen hochmoralischen Vorwand finden, um im Zug zu bleiben? Plötzlich schien es ihr sehr wichtig, sich zu vergewissern, dass Alice sie nicht im Stich lassen würde. Sie schaute das Telefon an und überlegte, was Alice wohl gerade tat. Doch dann stellte sie sich das kurze, missbilligende Schweigen vor, ehe Alice ihre Frage beantwortete, ein Schweigen, das irgendwie zu verstehen gab, dass ihre Freundinbedürftig, theatralisch und übergewichtig war. Jane seufzte, griff zur Fernbedienung und schaltete auf einen anderen Sender um.
BeiPhil & Joanna 2: Orangenmarmelade
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Es war einer dieser Februare, die die Briten daran erinnerten, weshalb so viele ihrer Landsleute auswanderten. Seit Oktober war immer mal wieder Schnee gefallen, der Himmel war wie mattes Aluminium, und das Fernsehen berichtete von plötzlichen Überschwemmungen, Kleinkindern, die von den Fluten
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