Unbefugtes Betreten
für Kinder waren sie ein Quell gutmütiger Neugier, für Männer ein Beweis des Schwachsinns. Er hatte sich bemüht, darin Fortschritte zu machen, doch ohne Erfolg, und so war er wieder in die Stummheit verfallen, die man erwartete und vielleicht auch vorzog. Und zu der Zeit erwarb er dann sein in Kalbsleder gebundenes Notizbuch, in dem sich die Aussagen und Meinungen der Menschen immer gleich blieben: »Glauben Sie, Sir, dass es im Himmel Malerei gibt?« »Glauben Sie, Sir, dass es im Himmel ein Gehör gibt?«
Doch wenn er sich eine gewisse Menschenkenntnis erworben hatte, dann entsprang diese weniger den niedergeschriebenen Bemerkungen als vielmehr seinen stummen Beobachtungen. Männer – und auch Frauen – bildeten sich ein, sie könnten ihre Stimme und Aussage verändern, ohne dass sich das auf ihrem Gesicht zeigte. Darin täuschten sie sich sehr. Sein eigenes Gesicht brachte, wenn er den Karneval der Menschheit betrachtete, so wenig zum Ausdruck wie seine Zunge; aber sein Auge verriet ihm mehr, als andere ahnten. Früher hatte er in seinem Notizbuch einen Packen handgeschriebener Karten mit sich geführt, auf denen nützliche Erwiderungen, notwendige Vorschläge und höfliche Korrekturen standen, um so auf das einzugehen, was ihm vorgetragen wurde. Er hatte sogar eine spezielle Karte für den Fall, dass er von seinem Gegenüber mit größerer Herablassung behandelt wurde, als er für schicklich hielt. Auf dieser Karte stand: »Sir, der Verstand hört nicht auf zu funktionieren, wenn die Pforten des Geistes verschlossen sind.« Dies wurde bisweilen als gerechter Tadel hingenommen, bisweilen für eine Unverschämtheit gehalten, da es von einem bloßen Handwerker kam, der im Stall schlief. Wadsworth hatte es dann aufgegeben, diese Karte zu benutzen, nicht dieser oder jenerReaktion wegen, sondern weil er so zu viel Wissen eingestand. Die in der Welt der Sprache lebten, waren in allem im Vorteil: Sie zahlten ihm sein Geld, sie hatten Einfluss und Ansehen, sie verkehrten in Gesellschaft, sie tauschten ganz natürlich Gedanken und Meinungen aus. Dabei konnte Wadsworth trotz alledem nicht erkennen, dass Sprechen an sich schon der Tugend förderlich war. Er selbst hatte nur zwei Vorteile: dass er die Sprechenden auf einer Leinwand abbilden und dass er stillschweigend ihre Aussagen beobachten konnte. Es wäre töricht gewesen, sich dieses zweiten Vorteils zu begeben.
Da war zum Beispiel diese Sache mit dem Klavier. Wadsworth hatte zunächst durch Deuten auf seine Honorartabelle erkundet, ob der Zolleinnehmer ein Portrait der gesamten Familie wünschte, ein Doppelportrait von sich und seiner Frau oder ein Gemeinschaftsportrait, vielleicht mit Miniaturen der Kinder. Mr Tuttle hatte, ohne seine Frau anzusehen, auf die eigene Brust gedeutet und auf das Gebührenblatt geschrieben: »Ich allein.« Dann warf er einen Blick auf seine Frau, legte eine Hand ans Kinn und fügte hinzu: »Neben dem Klavier.« Wadsworth bemerkte das hübsche Instrument aus Rosenholz und fragte mit einer Geste, ob er an es herantreten dürfe. Dann führte er mehrere Posen vor: vom ungezwungenen Sitzen neben der offenen Tastatur mit einem aufgeschlagenen Lieblingslied bis zum eher förmlichen Stehen neben dem Instrument. Tuttle nahm Wadsworths Platz ein, stellte sich in Positur, schob einen Fuß vor und schlug dann nach einiger Überlegung den Klavierdeckel zu. Wadsworth schloss daraus, dass nur Mrs Tuttle auf dem Klavier spielte, und weiter, dass Tuttles Wunsch, das Instrument in das Bild aufzunehmen, indirekt seine Frau in das Portrait aufnehmen sollte. Indirekt und obendrein preisgünstiger.
DerPortraitist hatte dem Zolleinnehmer einige Miniaturen von Kindern gezeigt in der Hoffnung, ihn umzustimmen, doch Tuttle schüttelte nur den Kopf. Wadsworth war enttäuscht, teils des Geldes wegen, doch mehr noch deshalb, weil sein Vergnügen an der Darstellung von Kindern gestiegen war, während das an der Darstellung ihrer Erzeuger abgenommen hatte. Gewiss, Kinder waren beweglicher als Erwachsene, ihre Formen unbeständiger. Doch sie schauten ihm auch in die Augen, und wer taub war, der hörte mit den Augen. Kinder hielten seinem Blick stand, und so nahm er ihr Wesen wahr. Erwachsene schauten oft weg, sei es aus Bescheidenheit oder aus dem Wunsch, etwas zu verbergen; manche dagegen starrten, wie der Zolleinnehmer, herausfordernd zurück, mit einer falschen Aufrichtigkeit, als wollten sie sagen: Natürlich verbergen meine Augen etwas, aber Sie sind nicht
Weitere Kostenlose Bücher